Die SPD jubelt in Niedersachsen zu früh
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der relative Wahlsieg der SPD in Niedersachsen ist für die Partei kein Anlass zum Jubel.
Vielmehr ist es an der Zeit, dass die Sozialdemokraten ihr Programm, ihr Personal und ihre Strategie überprüfen. Einerseits wurden sie in Niedersachsen stärkste Partei, konnten sogar Zugewinne verbuchen. Andererseits gelang es ihnen nicht, den Wählern jenes notwendige Parteienbündnis (Rot-Rot oder Rot-Grün, vielleicht auch Rot-Rot-Grün) deutlich zu machen, das allein qualitative Veränderungen zu Gunsten der „hart arbeitenden Menschen“ (Martin Schulz) hätte garantieren können; es sei denn, man hätte auf eine absolute Mehrheit gehofft, was jedoch völlig unrealistisch gewesen wäre.
Will die SPD in Niedersachsen weiter regieren, muss sie Kompromisse mit CDU oder FDP eingehen, was zu einer weiteren Verwässerung ihres Profils führen könnte. Das dürfte für sie schmerzhafter sein, weil mit extrem negativen Folgen belastet, als die notwendige Überwindung der Gräben, die sie permanent gegenüber der Linkspartei aushebt.
Ministerpräsident Stephan Weil profitierte vom Parteiwechsel einer grünen Abgeordneten zur CDU. Die Renegatin kostete den Grünen, dem bisherigen Koalitionspartner, etwa so viele Stimmen wie die SPD hinzugewonnen hat. Das war tendenziell voraussehbar. Also hätte die SPD neben geläuterten Grünen auch die Linke als potentiellen Partner aufbauen müssen. Letztere verfehlte den Einzug ins Landesparlament um 0,4 Prozent. Eine unaufdringliche Sympathiewerbung durch die sozialistische Mutterpartei hätte zur Überwindung der 5 Prozent-Hürde mutmaßlich ausgereicht.
Doch die Partei begnügte sich auf fahrlässige Weise mit der Zustimmung jener, die nicht überzeugt werden brauchen. Das waren in Niedersachsen und vor einem Jahr in Rheinland-Pfalz mehr, bei der Bundestagswahl erheblich weniger. Und der Trend weist nach unten. Bundesweit fehlen der SPD 20 Prozent (gemessen an der Bundestagswahl 1998). Hierbei handelt es sich überwiegend um Wähler, die den Sozialdemokraten nicht mehr vertrauen, die enttäuscht wurden. Die Deregulierung der Arbeit, die Reduzierung der gesetzlichen Altersrente einschließlich der seit 2005 praktizierten ungerechten Besteuerung der Alterseinkünfte, die zwar propagierte, aber nicht durchgesetzte Bürger-Krankenversicherung und die Überantwortung des Wohnungsmarktes an mafiöse Immobilienspekulanten sind die häufigsten Versäumnisse, die der SPD angelastet werden. Wobei das Versagen an anderen Stellen ebenfalls kein Ruhmesblatt ist (keine Konzepte in der Bildungspolitik, Beschneidung der Bürgerrechte durch falsche Prioritäten in der Sicherheitspolitik, das Fehlen einer ökologischen Verkehrspolitik, kein Zurückdrängen des religiösen Fundamentalismus gleich welcher Konfession, völlig unzureichende Integration von Geflüchteten, eine immer undurchschaubarere Europäische Union, kein Verbot von Waffenexporten in Krisenländer etc.)
Für diese Unterlassungen wird von den kritischen, um Ihr Vertrauen gebrachten Wählern der gesamte Parteivorstand verantwortlich gemacht. Das Trauerspiel des Martin Schulz, der es während des Wahlkampfes nicht wagte, Gerhard Schröder einen Verräter sozialdemokratischer Grundsätze zu nennen, ist symptomatisch für diese mutlos gewordene Partei. Schröder bedankte sich für die Zurückhaltung des Genossen Schulz, indem er öffentlich machte, sich zum Aufsichtsratsvorsitzenden des russischen Ölkonzerns Rosneft wählen zu lassen. Angesichts eines solchen Übermaßes an Dreistigkeit glaubt man eher an ein Leben nach dem Tod als an ein Überleben im neoliberalen Kapitalismus mit Hilfe der SPD.
Während des Bundestagswahlkampfes fragte mich ein SPD-Wahlhelfer, was die Partei tun müsse, um meine Stimme zu bekommen. Ich antwortete mit einem Vers von Heinrich Heine, den ich allerdings um konkrete Namen erweiterte:
„Und es ist das Brandenburger Tor
Noch immer so groß und so weit wie zuvor,
Und man könnt euch auf einmal zum Tor hinausschmeißen,
euch alle ...“
ihr Schulz, Nahles, Heil, Scholz, Schwesig, Stegner, Schäfer-Gümbel, Nietan, Bullmann, Annen, Matschie, Oppermann, Gabriel.
Foto:
Martin Schulz und Stephan Weil nach der Landtagswahl in Niedersachsen. © ndr.de
Info:
Das Zitat entstammt Heinrich Heines Gedicht „Die Menge tut es“.