Über den Prozess Merah in Frankreich
Anna-Patricia Kahn
Paris (Weltexpresso) - Während der Urteilsverkündung verzog der Hauptangeklagte Abdelkader Merah keine Miene, sein Blick ging ins Leere. Manche meinten gar, ein Lächeln in seinem Gesicht gesehen zu haben. Jedenfalls aber wiederholte er, der Bruder des Mörders von Toulouse, Mohammed Merah, verantwortlich für den Tod dreier jüdischer Kinder, eines Lehrers und dreier Soldaten im Jahr 2012, dass die französische Gerichtsbarkeit ihn nichts angehe und für ihn nur sein Gott zähle, jener Gott des von ihm gelobten und vertretenen radikalen Islam.
Das Urteil fiel: schuldig der Verschwörung zu Terrorakten und der Beihilfe zum Mord. Merah kassierte die Maximalstrafe von 20 Jahren Gefängnis. Sein Kumpan auf der Anklagebank, Fetah Malki, geht für die Besorgung einer Uzi und einer schusssicheren Weste für Mohammed Merah 14 Jahre hinter Gitter. Doch der Mittäterschaft wurden die zwei Angeklagten nicht für schuldig befunden. Die dafür nach dem Gesetz eines demokratischen Landes notwendigen aktiven und belastbaren Beweise konnten nicht erbracht werden.
Dieser Prozess war der erste einer bevorstehenden Serie, bei denen mangels möglicher Strafverfolgung der Terroristen selbst deren Helfer, ob aktiv oder nicht, zur Rechenschaft gezogen werden. Es sind Stellvertreter-Prozesse, deren Wert problematisch ist, was den Verteidiger Merahs zur Aussage bewog: «Beweise sind im Recht eines demokratischen Landes keine Nebensache.» Staranwalt Eric Dupond-Moretti hatte geschworen, mit Merah und Malki zwei Männer zu verteidigen, nicht aber ihre Sache.
Es ist sinnlos, dieses Argument zu bestreiten. Denn die Demokratie, gegen die die Terroristen kämpfen, kann und darf sich nicht verleugnen.
Und doch weckt dieser erste solcher Prozess das Gefühl, einem rechtlichen und politischen Widersinn beigewohnt zu haben. Er dauerte fünf lange Wochen, die Familien der Opfer mussten fünf Jahre auf ihn warten, und er sollte als Präzedenzfall zugleich für die Rechtsprechung wie die Politik dienen – eine Art Barometer, welcher die Entschlossenheit demonstrierte, mit welcher Demokratien im Allgemeinen und die französische im Speziellen gegen Terroristen vorgehen, die ihre Einwohner und Institutionen gefährden. Doch für den Generalstaatsanwalt und vor allem für die in ihrem tiefsten Inneren so sehr verletzten zivilen Parteien war das Urteil des Gerichts gegen den älteren Merah-Bruder nicht mehr als der Minimalanspruch. Die Gerichtsbarkeit, so sagte Eva Sandler, Mutter der zwei ermordeten Knaben Gabriel und Arie, könne ihr ihre Kinder und auch ihren Ehegatten Jonathan nicht zurückgeben. Den unendlichen Schmerz der Opferfamilien kann ein Gericht nicht lindern.
Die gerichtliche Verfolgung von Straftaten ist eine grundlegende Pflicht des Rechtsstaates, um die Respektierung seiner Gesetze zu gewährleisten. Sie kann weder Katharsis noch Volkstribunal sein, aber sie ist es sich schuldig, sich zu erklären und zu manifestieren, um diesen Schutz besser leisten zu können. Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof seine Schuld aber nicht erbracht; so wurden etwa das schlechte Funktionieren der Polizei- und Informationsdienste nicht genügend beleuchtet. Der Generaldirektor der Inneren Sicherheit, Bernard Squarcini, trat selbstsicher auf, als er sich ein wenig zu schnell aus der Affäre zog: «Versagen würde ich nicht sagen; Verzögerungen in der Untersuchung vielleicht.» Die Gefährlichkeit der Gebrüder Merah war aber doch allen Polizeidiensten bekannt. Dieser erste Prozess hätte also die perfekte Gelegenheit geboten, um diesen Versagen, diesen Verzögerungen nachzugehen, durch die so viele Menschen ihr Leben verloren.
Die fünf Prozesswochen benutzte Abdelkader Merah reichlich dafür, seine radikalen Ideen auszubreiten. Er behauptete, über 5000 Dokumente über den Dschihad zu besitzen, sich «Ben Laden» nennen zu lassen und davon überzeugt zu sein, dass sein «kleiner Bruder» sich das Paradies verdient habe. Derselbe Abdelkader Merah, der der Mittäterschaft freigesprochen wurde, ist also der Mentor des Mörders von Toulouse. Er hat die Idee seines Bruders, diese Morde zu begehen, erst ermöglicht, und dieser Aspekt der «Ansteckung mit Terrorismus» wurde vom Gericht nicht beurteilt. Die politische Botschaft an alle Schläfer-Terrorzellen oder bereits aktiven Terroristen ist demnach mehr als ermutigend: Die französische Justiz ist langsam und in ihre Prozeduren und ihre komplexe Sprache vernarrt. Sie ist der Spiegel unserer vom Monster des Terrors überrollten Gesellschaft, welche dieses Monster nicht wirklich bekämpfen kann, solange sie es nicht beim Namen nennt.
24 Stunden nach dem Urteil des Gerichts hat die Verteidigung Berufung eingelegt. Es wird einen zweiten Prozess Merah geben. Vielleicht gegen Ende 2018.
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Anna-Patricia Kahn ist französische Publizistin und Galeristin.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. November 2017