Heinrich Böll steht zu seinem Hundertsten Pate für die Diskussion um die Frage des Einmischens im politischen Tohuwabohu: ein Abend in Frankfurt, Teil 2/2
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie vertraut wurde uns sein ruhiger, bedächtiger und insistierender Ton des Einspruch-Tuns gegen verderbte Macht, auch wenn es sich ‚bloß‘ um Tricksereien und Unredlichkeiten in Gelddingen handelte, wie geschehen im Zusammenhang mit der Flick-Parteispenden-Affäre. Stiftungen wurden als verdeckte Instrumente der Parteienfinanzierung missbraucht.
Böll war Mitstreiter der Partei der Grünen, der Menschenrechts- und Frauengruppen. Als liberaler Katholik stand er gegen die illiberale Internationale, die sich heute wieder sammelt. Er war durch ein Elternpaar geprägt, das im Gefolge der Weltwirtschaftskrise jeden Respekt gegenüber der Obrigkeit verloren hatte. Was würde er heute alles vorzutragen haben, wenn es wie jetzt um veruntreute Billionen auf Kosten der ehrlich arbeitenden Menschheit geht.
Angesprochen darauf, das Gewissen der Nation zu sein, meinte er nur - reserviert und unterkühlt wie er sich gab -, na, es gäbe wohl zu wenig Gewissen. Die Rolle als Stimme des Anstands schien ihm zu Recht zugewachsen zu sein, das gestand er widerwillig ein. Er tat nur, was andere versäumten und woran sie nicht mal zu denken wagten. Er meinte mal herzallerliebst: ‚Ich bin drüber‘, habe meinen Hausheiligen namens Gottfried.
Die Meute des „gesunden Volksempfindens“
Im Sturm des Angriffs der angewachsenen Rechten steht regelmäßig der Schriftsteller Feridun Zaimoglu, ein außerordentlich wohlgesetzt formulierender Intellektueller, der mehr einer Leitkultur angehört als die Krekeeler aus dem Lager der Süchtigen nach Identität, die das Nichtidentische nicht zu schätzen gelernt haben. Er hat in 23 Jahren als Schreiber 2000 Lesungen abgehalten. Seine Themen sind nicht einförmig, sondern vielgestaltig. Sein Thema kann auch der romantische Multikulturalismus sein, wie auf der Praml-Bühne schon zur Darstellung gekommen ist. Gleichwohl, unter den zu Lesungen Gekommenen befinden sich meist auch zehn bis zwanzig sog. Identitäre. „Dann geht es los“, kommentierte Zaimoglu.
Das gesunde Volksempfinden gab es im Westen wie im Osten, bestätigte Ellen Ueberschär, die ihre frühen Jahre in der DDR verbrachte. In Prora, dem Trutzbau, bekannt auch unter der Bezeichnung ‚Der Koloss von Rügen‘, der ein Kraft-durch-Freud-Bauwerk darstellt, kam ihr einst der Strandwart entgegen und rief aus: „Unser Strand soll sauber bleiben“ – nur, weil sie als Kind, das sie war, unbedeckt über den schönen Strand der Ostsee streifte. Die DDR habe ihre antifaschistische Oberfläche vor sich hergetragen. Mit Böll ist sie im Einklang, wenn dieser zu anarchistischen Feststellungen neigte, wie: ‚Recht und Gerechtigkeit lassen ich mir nicht nehmen‘. Diese Begriffe sind auf rein menschlicher Ebene nicht letztbegründbar, dürfen aber nach menschlichem Ermessen entschieden vertreten werden.
Strukturwandel: Abkehr von ‚People in Motion‘
Der Strukturwandel der Öffentlichkeit hat sich weiter fortgesetzt. Was ist passiert? Arme seien nicht mehr Teil der Zivilgesellschaft, es sei quasi riechbar, trotz des Gestanks der Nobelkarossen, warf eine Zuhörerin ein. Das fordert auf zum Widerstand. Ein Satz von Böll lautete: „Die Zeit des Frevelns ist gekommen“. Die heutige Zeit wäre mehr noch Bölls Zeit als es eine damalige war. Jutta Ebeling sprach an, dass eine große progressive Auseinandersetzung fehlt. Es gebe ein ganzes Bündel von Strukturwandel:
Professionalisierung, Technokratisierung, Karriere und geräuschlose Politik betreiben, Hang zur Selbstoptimierung und Individualisierung, vorwiegend jüngerer Leute und politischer Personen, die nie etwas anderes gemacht haben als Politik. Ein Spezifikum der Leitkultur ist auch, dass der deutsche Hausvater keine Streitkultur haben möchte (nicht mal beim Diesel). Und die Universitäten haben auch schon bessere Zeiten der Kritik erlebt, sind ökonomisiert.
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