tach grenzeLassen sich die Eskalationen 
noch abwenden?

Jacques Ungar


Tel Aviv (Weltexpresso) - Die Spannungen an den Grenzen in Israels Süden und Norden geben grossen Anlass zur Sorge, die Situation scheint unberechenbar und eine militärische Konfrontation möglich.

Israelische Soldaten nahmen diese Woche Stellung an der Grenze zu Gaza im Süden Israels.

Nichts ist im Nahen Osten so beständig wie der Wandel. Diese Weisheit mag inzwischen bereits etwas abgegriffen sein; von ihrer Allgemeingültigkeit hat sie deswegen allerdings kaum etwas verloren. Auf die Berichtswoche umgemünzt will die Weisheit in etwa besagen, dass die Spannungen an den Grenzen in Israels Süden und Norden bis zum Moment, da die tachles-Leser ihr Blatt am Freitag in Händen halten werden, bereits in eine handfeste militärische Konfrontation gemündet ist. Mit gleicher «Sicherheit»  kann aber auch gesagt (gehofft) werden, dass die Luft aus dem Eskalationsballon bereits wieder gewichen sein wird – bis zur nächsten Runde von Anschlag, Vergeltung, Drohungen und Gegendrohungen. Mit diesen Einschränkungen versehen, wollen wir im Folgenden ein Bild zeichnen, wie es sich noch am Donnerstag an den sicherheitsmässig neuralgischen Stellen Israels präsentiert hat.


Angst vor Vergeltung

Aus Angst vor einem Vergeltungsakt des Islamischen Jihads für die Zerstörung eines auf israelisches Territorium hineinreichenden palästinensischen Offensivtunnels – zwölf, teils hochrangige Jihad-Aktivisten und zwei der Hamas kamen dabei ums Leben – haben  zuständige IDF-Stellen Anfang der Woche mit verschiedenen Massnahmen ihre Alarmstufe wesentlich erhöht, vorerst allerdings noch von der Einberufung von Reservisten abgesehen. Unter anderem wurden erstmals seit Ende des Gazakriegs von 2014 wieder Raketenabwehrbatterien vom Typ «Iron Dome» rund um den Gazastreifen, aber auch im israelischen Zentrum und im Gush Dan, dem Einzugsgebiet von Tel Aviv in Stellung gebracht. Das ist die vorläufige Antwort auf Dutzende von GRAD-Raketen mit einer Reichweite von über 40 Kilometern, über die der Jihad verfügt. Solche Raketen können israelische Städte wie Ashdod oder Beerscheva erreichen, und möglicherweise besitzt die Terrororganisation auch über Geschosse von noch längerer Reichweite.

Auch wird in Israel nicht ausgeschlossen, dass die Gruppe sogar in verschiedenen Gegenden der Westbank Raketen hat, über deren Einsatzbereitschaft allerdings keine verlässlichen Informationen vorliegen. Bereits am Sonntag warnte Premier Binyamin Netanyahu den Gazastreifen und meinte, Israel halte die Hamas für jeden Angriff aus Richtung Gaza verantwortlich. «Wir werden eine sehr entschiedene Haltung einnehmen gegen jeden, der uns von irgendwoher angreift oder anzugreifen versucht», drohte der Regierungschef. Innerhalb der IDF fürchtet man, dass der Weg zu einer neuen grösseren Konfrontation nach drei Jahren der relativen Ruhe immer kürzer wird, auch wenn die Hamas alles Erdenkliche zu unternehmen scheint, um eine solche Eskalation zu vermeiden – nicht aus Rücksicht auf Israel, aber aus Angst davor, dass eine Konfrontation mit Israel die noch auf wackligen Beinen stehende und nur langsam vorankommende inner-palästinensische Versöhnung gefährden könnte.


Deutliche Warnung

Bereits einige Tage zuvor veröffentlichte Israel eine in ihrer Deutlichkeit unübliche Warnung an die Adresse des Islamischen Jihads. In einem in arabischer Sprache gehaltenen Video erklärte Generalmajor Yoav Mordechai, IDF-Koordinator der Regierungsaktivitäten in den Gebieten, auf dem Video-Clip: «Vor zwei Wochen hat Israel einen terroristischen Tunnel innerhalb des israelischen Territoriums in die Luft gejagt. Wir sind uns bewusst, dass der palästinensische Islamische Jihad eine Aktion gegen Israel plant.» Die Organisation spiele «auf dem Rücken der Einwohner des Gazastreifens und zu Lasten der internen palästinensischen Versöhnung und der ganzen Region mit dem Feuer», fügte Mordechai hinzu. «Lasst uns klar sein: Israel wird mit Kraft und resolut auf jede wie auch immer geartete Reaktion des Islamischen Jihads antworten – nicht  nur gegen den Jihad, sondern auch gegen die Hamas», schliesst das Video, nachdem der Führung des Jihads in Damaskus geraten worden ist, vorsichtig zu sein und die Dinge unter Kontrolle zu halten. «Das Hauptquartier des Palästinensischen Islamischen Jihads in Damaskus und die Führer der Organisation sollten die Dinge besser sofort in die eigenen Händ nehmen, da Ihr diejenigen seid, welche die Verantwortung zu tragen haben wird.» Laut israelischen Geheimdienstinformationen steht der Jihad im Gazastreifen intern unter Druck vor allem seitens der den Streifen kontrollierenden Hamas, von einer Vergeltung für die Tunnelzerstörung abzusehen.


Vorsichtiger amerikanischer Optimismus

Auch die Amerikaner meldeten sich zu Wort, was die Gefahren aus dem Gazastreifen angeht. Jason Greenblatt etwa, der US-Sondergesandte, tweetete am Dienstag, dass «extremistische Äusserungen und Provokationen gegen Israel seitens des Islamischen Jihads» der Bevölkerung des Gazastreifens erheblich schaden würden und sehr gefährlich seien. Greenblatt forderte die Palästinensische Behörde (PA) von Präsident Mahmoud Abbas dringend auf, die «volle Verantwortung in Gaza» wieder zu übernehmen. Zwar ist das grundsätzlich im Versöhnungsabkommen zwischen den beiden palästinensischen Fraktionen vorgesehen, doch in der Vergangenheit hat sich ja schon mehr als einmal erwiesen, dass zwischen den Wünschen der PA und den Befürchtungen der Hamas Kluften liegen.

Greenblatt hält offenbar trotz allem an seinem vorsichtigen Optimismus fest und schloss seine Twitter-Nachricht wie folgt: «Die USA arbeiten (zu diesem Zweck, Anm. d. Red.) zusammen mit der PA, mit Israel, Ägypten und anderen, um die Situation zu ändern. Gaza hat etwas Besseres verdient.» – In Fortsetzung ihres verbalen Schlagabtausches warnten Netanyahu und der Koordinator der Regierungsaktivitäten in den Gebieten, dass die IDF «harsch» auf gewalttätige Attacken reagieren würden. Der Jihad seinerseits erhöhte die Bereitschaft auf die höchste Alarmstufe und bezeichnete die «Drohungen des zionistischen Feindes, der Führung der Organisation Schaden zuzufügen» als «Kriegserklärung».


Spannungen im Norden

Parallel zur Eskalation im Süden bleibt die Spannung im Norden entlang der israelisch-syrischen Grenze unverändert. Nachdem die IDF am letzten Wochenende eine wahrscheinlich syrische Drohne abschossen, welche in die entmilitarisierte Zone am Golan eingedrungen war, sich aber noch im syrischen Luftraum befunden hatte, drohte Verteidigungsminister Avigdor Lieberman mit klarer Sprache. Israel werde aktiv werden, warnte er, um den iranischen Versuch zu vereiteln, mit Hilfe der Hizbollahmiliz eine militärische Präsenz in Syrien zu etablieren. Dass diese Aufgabe vor allem aus internationaler Warte komplexer werden könnte, als Israel sich dies vorstellt, unterstrich eine sich auf westliche Geheimdienste abstützende Meldung der BBC, wonach der Iran bereits damit beschäftigt sei, insgeheim eine Militärbasis in Syrien zu errichten (vgl. S. 4).

Sollte diese Meldung den Tatsachen entsprechen, würde sich damit die von Jerusalem stets ins Feld geführte Behauptung bekräftigen, wonach der Iran nicht wirklich daran denkt, die im jüngsten amerikanisch-russisch-jordanischen Waffenstillstandskonzept erwähnte Forderung nach einem Abzug «fremder Truppen» aus Syrien effektiv zu erfüllen. Israels Regierungschef Netanyahu leistete dieser Tage seinen eigenen Beitrag an eine Erhöhung der Spannungen im Norden, als er an der wöchentlichen Sitzung seiner Likud-Fraktion betonte, Israel werde trotz des genannten Waffenstillstandes mit seinen Schlägen gegen Süd-Syrien fortfahren. Israels Sicherheitspolitik sei, wie er meinte, die «richtige Kombination von Entschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein.» Er habe Washington und Moskau in diesem Sinne informiert. Worum es Netanyahu tatsächlich geht, betonte er in einem Nebensatz. Der Waffenstillstand enthalte «keinerlei Vorkehrungen», um die iranische Expansion in der Region zu stoppen. Dabei geht es Jerusalem in erster Linie um die Definition einer Pufferzone von mindestens 40 Kilometern von den israelischen Grenzen entfernt.

Geheimdienstminister Israel Katz wiederholte ferner, dass sein Land nicht akzeptieren werde, dass «Iran, seine Affillierten und Satelliten» sich in Syrien festsetzen. Das wäre laut Katz eine permanente Gefahr und eine konstante Quelle für «Spannung, Friktionen und Instabilität». Vielleicht eher früher als später werden die Israeli lernen müssen, ob sie in ihrem Staat auf absehbare Zeit mit der aus dem Norden herrührenden Gefahr im Alltag zu leben haben werden, oder ob sie gemeinsam mit «Uncle Sam» in ihrer Nachbarschaft Terroristen-Razzien betreiben dürfen/müssen.

Foto: © tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 17. November 2017