kpm Evangelischer Friedhof an der Kemminghauser Strase in DortmundProfile der 68er. Teil 2/4

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Warten erschien unerträglicher als die Anwesenheit des Todes; die wohlkonservierte Trauer wich allmählich einer quälenden Ungeduld. Mit jeder Minute wuchsen Spannung und Verdrossenheit.

In dieser sich zuspitzenden Situation, in der sämtliche Gefühle zu eskalieren drohten, erkannte der Organist die Gunst der Stunde, seiner Stunde. Mit der Überzeugungskraft des Nothelfers intonierte er ein Vorspiel:
„Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt“. Und wechselte dann nach kurzer Pause, aber weiterhin unvermittelt über zu „Jesus geh‘ voran auf der Lebensbahn“.
Knappe zehn Minuten ließen sich so überbrücken. Und nicht wenige in der Trauerge­meinde hielten diesen späten, aber doch wirkungsvollen Auftakt für den geplanten Beginn der Feier.
Aber nach wie vor zeigte sich kein Pfarrer. Da wurde der Mann an der Orgel noch mu­tiger. Er griff in das Repertoire für solche Anlässe und ergänzte die bereits gespielten Weisen um weitere sachdienliche Melodien: „So nimm denn meine Hände“ und „Befiehl du deine Wege“.
Das musikalische Intermezzo hatte genügt, die beiden eigentlichen Hauptakteure der Vorstellung zu einer Aktion zu drängen. Denn irgendetwas Unvorhergesehenes schien diese Beerdigung platzen zu lassen. Und das wollten sie um fast jeden Preis verhindern.

„Ich geh’ ma’ nachkucken – dieser Arsch spinnt doch wohl wieder! Fang’ ma’ mit deiner Rede an!“
Wenige Worte, kaum wahrnehmbar geflüstert, zwei, drei eindeutige Blicke und Gesten – jeder schien eine eingeübte Rolle zu spielen, als würde es einen Notfallplan für das Undenkbare geben.

Karl Hangebrauck, der alerte und sich seiner Bedeutung und seines Einflusses be­wusste Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, erhob sich, schritt gemessen nach vorn und platzierte sich am Rednerpult zu Füßen des aufgebahrten Sargs. Die Nervosität, die auch ihn während der letzten Viertelstunde befallen hatte, war ihm nicht mehr anzumerken. Lediglich seine Stimme war belegter als üblich – jedoch konnte man diesen Umstand bei einigermaßen Wohlwollen auch seiner Trauer zu­rechnen.

Er wandte sich an die Versammelten und hielt in pastoralem Tonfall, aber durchaus gekonnt seine Rede:
„Liebe Familie Schulze-Althoff, liebe Angehörige, sehr geehrter Herr Oberbergrat Gernsheim, liebe Kollegen, auch in dieser Stunde der Trauer schauen wir mit Stolz und Dankbarkeit auf das Lebenswerk eines Mannes zurück, dem wir alle viel verdanken...".

Und während er biografische Daten und soziale Wohltaten des hochverdienten Toten aneinanderreihte, eilte Gisbert Wöhrmann, Bergwerksdirektor und bereits seit einigen Jahren Nachfolger des Verstorbenen, unbemerkt nach draußen.

Peter Wilken hatte diese Szenerie aus der ersten Reihe verfolgt. Denn als Friedhofsverwalter oblag ihm zusammen mit dem Bestatter die Organisation besonderer Trauerfeiern. Als Gisbert Wöhrmann aufgestanden und durch die Seitentür nach draußen entwichen war, stand auch er auf und ging ins Freie, sodass er weiterhin Augenzeuge der Geschehnisse blieb.

Sobald Wöhrmann die Friedhofshalle verlassen hatte, hetzte er den rot gekieselten Weg hinunter, dem Tor entgegen. Dort parkte sein Dienstwagen. Kaum war sein Fahrer in Blickweite, gestikulierte er ihm mit heftigen Gebärden und lautem Rufen, dass sie sofort losfahren müssten.
Der Chauffeur reagierte richtig, startete das schwere Fahrzeug, steuerte es seinem Chef entgegen und kaum hatte dieser Platz genommen, preschten sie mit hoher Geschwin­digkeit die knapp zwei Kilometer zum Pfarrhaus. Fast wären sie in der Einfahrt mit zwei Fahrzeugen kollidiert, die dort unvermutet standen: einem Streifenwagen der Polizei und einem Notarztwagen.
Wilken war ihnen auf dem Fahrrad gefolgt, doch weil sein Weg kürzer war, fast zeitgleich mit ihnen eingetroffen.

Rolf Denter, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Dortmund – Oberbecker, lag leblos auf einer Krankentrage, als Gisbert Wöhrmann zögernd das Pfarrhaus betrat. Die Haustür hatte offen gestanden, ebenso die zum Büro. Mit ungewohnter Zurückhaltung näherte er sich dem Toten, der von zwei Polizisten bewacht wurde. Dann schaute er mit fragendem Blick den Notarzt an. Der erkannte ihn, schließlich war der Bergwerksdirektor eine im Stadtteil bekannte Persönlichkeit, und informierte ihn kurz und bündig:

„Frau Denter fand ihren Mann vor etwa einer Stunde in diesem Büro, regungslos und mit dem Oberkörper auf den Schreibtisch vornübergebeugt. Anscheinend hatte er eine Pre­digt vorbereitet, einige Blätter des Manuskripts weisen Blutflecken auf. Aber es war kein gewaltsam herbeigeführter Tod. Pastor Denter ist Opfer seiner Lebererkrankung gewor­den. Und es scheint so, als hätte er heute – und vermutlich nicht zum ersten Mal – wieder Alkohol in größeren Mengen getrunken; wir fanden eine fast leere Flasche Weinbrand unter dem Schreibtisch. Ich habe der Polizei trotzdem eine Obduktion na­hegelegt und dies auch auf dem Totenschein vermerkt. Die Gerichtsmedizin wird gleich eintreffen und die Leiche von Herrn Denter abholen.“
„Wo befindet sich Frau Denter?“ Wöhrmann zeigte eine Spur von Anteilnahme.
„Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt, sie hat sich ins Schlafzimmer zurückge­zogen. Die Polizei hat den Sohn informiert, er wird noch im Laufe des Mittags hier er­wartet.“

Gisbert Wöhrmann trat an den Schreibtisch und nahm die Blätter in die Hand. Niemand hinderte ihn daran. Offensichtlich schien es sich um die vorbereitete Beerdigungspredigt für Schulze-Althoff zu handeln. Er las die ersten Sätze:

„Jesus, unser geistlicher und weltlicher Befreier, der den Tod überwunden hat, ver­pflichtet uns zur Wahrhaftigkeit: Eure Rede sei ja, ja, nein, nein, heißt es in der Berg­predigt. Darum sollen am Sarg dieses Verstorbenen wahre und klare Worte gesprochen werden. Die Zeit der Lügen, der Vertuschungen, der Beschwichtigungen ist zu Ende. Wir Sterblichen, von der Überzeugung geeint, dass das Reich Gottes nicht nur im Himmel, sondern auch hier auf Erden existiert bzw. errichtet werden muss ...“.

Wöhrmann hatte genug gelesen. Er ließ sich zur Trauerhalle zurückfahren und organi­sierte den Fortgang der Beerdigung. Bergassessor Schulze-Althoff wurde ohne den Segen der Kirche bestattet. Sein langjähriger Widersacher Rolf Denter, der „rote Pas­tor“, hatte ihm den letzten Dienst verweigert.

Polizeiobermeister Wolf Schubert, einer der zwei Streifenpolizisten, die auf den eingegangenen Notruf hin zum Pfarrhaus geeilt waren, hatte Gisbert Wöhrmanns Gespräch mit dem Arzt verfolgt und es samt seiner persönlichen Eindrücke später ausführlich Peter Wilken geschildert.

Vikar Karl-Friedrich Denter hatte den Abtransport der Leiche seines Vaters nicht mehr mitbekommen. Unmittelbar, nachdem ihn die Todesnachricht gegen 11:45 Uhr im Predigerseminar in Soest erreicht hatte, war er über die stark befahrene Bundesstraße 1 die 65 KM nach Dortmund gerast, die zahlreichen Geschwindigkeitsbeschränkungen be­wusst außer Acht lassend. Doch im Pfarrhaus in Oberbecker traf er nur noch auf die beiden Polizisten, die ihn über das Wichtigste informierten, bevor sie ihren Streifendienst fortsetzten.

Mit Peter Wilken hatte er am nächsten Tag ein langes Gespräch geführt, in dem es zunächst um die Grabstätte und die Gestaltung der Trauerfeier gegangen war. In dessen Verlauf erzählte er dem Kirchenvorstandsmitglied aber auch über die unterschiedlichen, gar widersprüchlichen Gedanken, welche die Todesnachricht in ihm ausgelöst hatte. Und danach detailliert über das, was ihm später zu Hause im Pfarrhaus durch den Kopf gegangen war. Wilkens Aufzeichnungen, die vermutlich erst Tage oder gar Wochen später angefertigt worden waren, lasen sich, als ob ein allwissender Erzähler sowohl mit Distanz als auch mit Anteilnahme berichtet. Ich habe deswegen seinen Text, der vom Bemühen um große Authentizität getragen ist, nur behutsam bearbeitet und ihn lediglich sprachlich der Gesamtdarstellung angepasst.

Karl-Friedrich hatte seine Mutter angezogen auf dem Ehebett liegend angetroffen. Sie war unendlich traurig und völlig erschöpft gewesen. Erkennbar wollte sie mit ihrem Schmerz allein sein; sein Versuch, ihr einige tröstende Worte zu sagen, ging ins Leere. So drückte er ihr sanft die Hände, hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn und signalisierte ihr, dass er im Wohnzimmer die aktuellen Arbeitspapiere des Vaters sortieren würde. Sie möchte nach ihm rufen, wenn sie ihn bräuchte.

Aus dem Pfarrbüro holte er sich den Terminkalender des Vaters und dessen prall gefüllten Pultordner mit fertigen und unvollendeten Predigtmanuskripten.

Foto:
Evangelischer Friedhof an der Kemminghauser Straße in Dortmund
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