SPD: Kein Widerstand gegen die Diktatur der Lobbyisten
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wenn man bei der Einführung einer Bürgerversicherung 90 Prozent der Bevölkerung auf seiner Seite hat und sich trotzdem nicht durchsetzt, verliert eine politische Partei ihre Existenzberechtigung.
Und das ist nicht das einzige drängende und sich eindeutig stellende Problem, das im Sondierungspapier der Sozialdemokratie entweder nicht erwähnt oder schöngeredet wird. Auch die gesetzliche Rente bleibt fest in den Händen des Neoliberalismus. Denn sie wird weiterhin Spielball von Versicherungskonzernen sein, die lediglich ihre teuren und wenig nachhaltigen Produkte zu Lasten der Allgemeinheit verkaufen wollen. Wer die Altersrente unabhängig von der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts auf 48 Prozent einfrieren will, privatisiert und entdemokratisiert den Staat.
Ähnlich verhält es sich bei der Situation auf dem Wohnungsmarkt. Zwei Drittel der Bundesbürger sind auf eine bezahlbare Mietwohnung angewiesen. Die SPD hätte sich an die Spitze der Proteste gegen Gentrifizierung, Mietwucher und Immobilienspekulation setzen können, ja setzen müssen.
Der organisierte Betrug an den Käufern von Dieselfahrzeugen schreit geradezu nach einer entschiedenen Haltung der Sozialdemokratie, endlich neue und zukunftsfähige Wege in der Verkehrspolitik einzuleiten. Stattdessen folgt man dem halbseidenen Alexander Dobrindt, der sich zwar zum Prototypen eines käuflichen Politikers eignet, aber zu nichts anderem.
Ebenso dürfte der Klimawendel nicht länger denen überantwortet bleiben, die ihn Tag für Tag neu verursachen und Schindluder treiben mit dem Schicksal künftiger Generationen.
Ein objektiver Blick auf die vielfältigen Probleme bei Bildung, technischer Infrastruktur oder im Gesundheitswesen zeigt, dass es allerhöchste Zeit ist, denen einen einkommensabhängigen Mitgliedsbeitrag für das Gemeinwesen (= Steuer) abzuverlangen, die dazu in der Lage sind.
Die Lippenbekenntnisse zu Europa wirken hohl und schal; denn die europäischen Institutionen sind fest im Griff der Lobbyisten, welche kontinuierlich die demokratischen Strukturen der Union zerstören. Bei der Europäischen Zentralbank haben internationale Großbanken wie J. P. Morgan und Goldman Sachs einen größeren Einfluss als die Regierungen und Parlamente der beteiligten Länder. Soll das weiterhin klaglos hingenommen werden? Ausgerechnet vom ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, also von Martin Schulz?
Welche Strategien sind gegen die klerikal-nationalistische Regierung in Polen notwendig? Wie reagiert man auf Erdogan und auf Donald Trump? Wie will man in der tendenziell säkularen Bundesrepublik die Begehrlichkeiten religiöser Fanatiker abwehren? Überwachungsanlagen auf öffentlichen Plätzen reichen dazu allein sicherlich nicht aus.
Der eilig erstellte Brief an die SPD-Mitglieder ist voller unverbindlicher Absichtserklärungen bzw. liest sich wie eine To-do-Liste von vorgestern. Darin ist von einem modernen Einwanderungsgesetz die Rede, von einem öffentlich geförderten sozialen Arbeitsmarkt für 150.000 Langzeitarbeitslose, von einem Initiativrecht für Betriebsräten bei der Weiterbildung, von einem seit langem geforderten und nicht durchgesetzten Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, von gebührenfreien Kitas, von Parität bei den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung, nach dem diese vor Jahren im Zuge der Deregulierung (= Privatisierung der Sozialsysteme) abgeschafft wurden, von der Absenkung der Modernisierungsumlage zur Entlastung der Mieter, von einem Klimaschutzgesetz (aber keinen verbindlich definierten Klimazielen).
Alles gut, alles schön, aber ein Programm, das diesen Namen tatsächlich verdiente, ist nicht erkennbar. Irgendwie hat man den Eindruck von einer Beschäftigungstherapie für nicht ausgelastete Hobby-Politiker, gar für die Schaffung einer Mutti & Tussi-Republik. Dieses Sondierungspapier kommt daher wie das Manifest einer ausgelaugten Partei, der es an Programmen, Überzeugungen und eben an glaubwürdigen Funktionsträgern mangelt.
Die letzten Chancen zur Rettung der SPD sind der anstehende Parteitag, der über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen entscheiden soll, und die Mitgliederversammlung, auf der die Ergebnisse dieser Verhandlungen zur Abstimmung gestellt werden. Die Blinden mögen sich Hoffnungen machen, ich aber sehe... (um mit Brecht zu sprechen).
Foto:
Angela Merkel und Martin Schulz bei den Sondierungsgesprächen
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