p abbasAuf die jüngste Äusserungen von Mahmoud Abbas reagierte Reuven Rivlin mit harschen Worten – der Friedensprozess scheint an einem Tiefpunkt angelangt

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Wenn ein Mann mit der Erfahrung und dem politischen Weitblick von Reuven Rivlin, dem israelischen Staatspräsidenten, Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas vorwirft, in die Rhetorik vergangener Jahre zurückzufallen, für welche er des Antisemitismus und der Holocaust-Leugnung beschuldigt worden ist, sollte vielleicht auch der Herrscher von Ramallah­ kurz innehalten und eine politische Auslegeordnung veranstalten. Ausser natürlich, Abbas habe beabsichtigt, mit seinen Tiraden (vgl. Kasten) bewusst die kümmerlichen Reste eines nie richtig begonnenen Friedensprozesses zum Scheitern zu bringen. Dann wird er wohl das erzielte politische Eigentor dankbar und bewusst entgegennehmen und das Werk der Zerstörung des zwischen Jerusalem und Ramallah noch vorhandenen minimalen Bilateralismus mit Akribie und zielbewusst fortsetzen.


Vertrauen gebrochen

Rivlin bezeichnete vor einer amerikanischen AIPAC-Delegation das von Abbas Gehörte als «furchtbar». Er sei zu Ideen zurückgekehrt, die er schon vor Jahrzehnten propagiert habe und die nicht weniger furchtbar gewesen seien. «Wie kann man sagen, Israel sei das Resultat der westlichen Verschwörung, um Juden in arabischem Land anzusiedeln? Wie kann man sagen, das jüdische Volk habe keine Verbindung zum Land Israel?» Mit seinen Worten leugne Abbas die Rückkehr der Juden in ihre Heimat, fuhr Rivlin fort, obwohl Abbas doch genau wisse, dass der Koran selbst die Anerkennung des Landes Israel als «unser Land» erwähne. «Ohne diese elementare Anerkennung können wir weder Vertrauen noch Fortschritt aufbauen», bedauerte der israelische Präsident.

Auch im fernen Indien liess Premier Binyamin­ Netanyahu die Gelegenheit nicht aus, Mahmoud Abbas an den Karren zu fahren.­ Mit seinen Schimpfereien habe Abbas, wie Netanyahu gegenüber den ihn begleitenden Journalisten festhielt, «unseren politischen Zielen einen besseren Dienst als irgend­etwas anderes erwiesen». Er habe nämlich das blossgelegt, was Israel seit jeher sage: Die Wurzeln des Konflikts seien ihre Opposition gegen einen jüdischen Staat, in welchen Grenzen auch immer. «Was er sagte, hilft uns, die Wahrheit zu zeigen.» Im Übrigen unterstützt Netanyahu Schritte zur Erleichterung der wirtschaftlichen­ Notlage des Gazastreifens, fügte aber hinzu: «Es ist eine absurde Situation für Israel, sich um die elementaren Lebens­notwendigkeiten kümmern zu müssen, die die Hamas vernachlässigt.» Hier nun stellt sich die Frage, ob bei aller grundsätzlichen Be­rechtigung der Beweisführung Israels der jüdische Staat nicht Gefahr läuft, mit seiner Argumen­tation mit voller Kraft voraus ins inter­-nationale Abseits zu stürmen.


Entmilitarisierung von Gaza?

Es stimmt, dass die Hamas mit ihrem hartnäckigen Bestehen auf dem Aufbau ihrer militärischen Kraft primär verantwortlich ist für die Notlage Gazas. Es stimmt auch, dass eine Veränderung der Umstände über das bare Minimum hinaus die vorherige Lösung der Frage der vermissten IDF-Leute oder deren sterblicher Überreste im Gazastreifen erfordert. Und schliesslich stimmt es auch, dass langfristig nur eine Entmilitarisierung Gazas im Austausch für eine Rehabilitierung den Streifen und seine Einwohner aus der derzeitigen prekären Lage retten wird. In einer Analyse in «Haaretz» betont Amos Harel die Korrektheit der Diagnose, weist aber darauf hin, dass sie an sich nur die Kluft zwischen der gegenwärtigen Situation und Israels bevorzugter Lösung reflektiere: Die Rehabilitierung des Streifens im Austausch gegen eine Niederlegung der Waffen durch die Hamas. Harel fährt fort:

«In der Praxis hat Israel nicht wirklich versucht, diese Zielsetzung im Waffenstillstandsabkommen zu erreichen, das vor dreieinhalb Jahren erzielt worden ist. Seither wurde überhaupt nichts unternommen, um diese Thematik voranzubringen. Aus ersichtlichen Gründen tut Israel alles, um den jüngst bei Kerem Shalom entdeckten, unter israelischem und ägyptischem Territorium hindurchführenden Tunnel gross herauszubringen.»


Drohende humanitäre Katastrophe

Amos Harel gibt sodann zu bedenken, dass die israelischen Argumente gegen die Hamas und die kontinuierliche Investierung in den Bau von Anti-Tunnel-Barrieren und in die Entdeckung weiterer Tunnels die Diskussion nicht überdecken können, die bezüglich der dem Gazastreifen drohenden humanitären Kata­strophe geführt wird. Die internationale Völkergemeinschaft werde Argumente von Leuten wie Netanyahu und seinem Verteidigungsminister Avigdor Lieberman nicht akzeptieren, wenn in diesem Winter Abwasserströme die Flüchtlingslager und Wohnquartiere überschwemmen oder wenn dort, wie Experten im israelischen Verteidigungsestablishment befürchten, Epidemien wüten. Sogar weitaus weniger dramatische Infrastrukturprobleme wie zusätzliche Unterbrüche in der Stromversorgung könnten schlimme Konsequenzen nach sich ziehen. «Ansteckende Epidemien werden nicht am Kontrollpunkt Erez Halt machen», schreibt Harel zum Abschluss seiner Analyse, «und keine Technologie wird sie identifizieren und eliminieren, bevor sie die Grenze bei Kerem Shalom passieren und Israeli in Mitleidenschaft ziehen.» Unter diesen Umständen sei die Frage, ob die Hamas ihre Waffen erneut gegen Israel erheben werde, das kleinste von Israels Problemen. Der Staat könnte sich vor die Aufgabe gestellt sehen, mit viel grösseren und dringenderen Herausforderungen fertigzuwerden, wie der Verhinderung des Ausbruchs von Epidemien im Negev oder der Frage, ob Israel passiv beiseitestehen kann, wenn die Krankenhäuser in Gaza oder das Wassersystem des Streifens zusammenbrechen. Was sollte schliesslich getan werden, wenn Massen von Palästinensern sich gegen den Grenzzaun drängen und während einer humanitären Krise bisher ungekannten Ausmasses um Israels Hilfe bitten?


Eine Art Koexistenz?

Angesichts eines solchen, wahrscheinlich gar nicht mehr so unrealistischen Szenarios verliert das Eigentor des Palästinenserpräsidenten an Bedeutung, während das nicht zum ersten Mal drohende internationale Abseits Israels belegen wird, dass die Zerstörung von Offensivtunnels zwar bittere Notwendigkeit ist, darüber hinaus aber kaum mehr als ein kurzfristiger militärischer Erfolg der (allzu?) selbstsicheren Israeli. Die humanitäre Abhilfe für den Gazastreifen hingegen könnte auf Generationen hinaus Erleichterung schaffen, was in der Ära nach Abbas vielleicht sogar eine Art Koexistenz entstehen lassen könnte. Dazu bedarf es aber primär in Jerusalem der Fähigkeit, in langfristigen Dimensionen visionär zu denken und zu handeln.

Die Fähigkeit wäre grundsätzlich vorhanden, und auch der Wille wäre generierbar. Er wird aber von der heutigen Führung des Landes als eine beinahe landesverräterische Haltung empfunden und entsprechend unterdrückt.

KASTEN
MAHMOUD ABBAS  18.Jan 2018

«Wir werden zurückschlagen»

In einer in dramatischem Ton gehaltenen Rede vor dem palästinensischen Zentralrat erklärte Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas am Sonntagabend, Israel habe die Osloer Abkommen zunichte gemacht. Den Nahostplan des amerikanischen Präsidenten Trump kritisierte er als einen «Schlag ins Gesicht» und fügte im gleichen Atemzug hinzu: «Wir werden zurückschlagen.»

Besonders scharf fuhr er dem US-Präsidenten an den Karren: «Trump droht mit einer Annullierung der Finanzierung der palästinensischen Behörde, weil die Verhandlungen gescheitert seien. Wann, zur Hölle, haben die Verhandlungen überhaupt begonnen?» Alle künftigen Verhandlungen würden nur im Zusammenhang mit der internationalen Völkergemeinschaft stattfinden, durch eine internationale Kommission, geschaffen im Rahmen einer internationalen Konferenz. «Lassen Sie mich klarstellen: Wir werden keine amerikanische Führung eines politischen Prozesses mit Verhandlungen akzeptieren.»

Angesichts der heutigen engen Beziehungen zwischen Washington und Jerusalem ist es mehr als fraglich, ob Israel sich das von Abbas vorgelegte Konzept überhaupt zu Gemüte führen wird. Man sollte nicht glauben, dass die Bemerkung des Präsidenten, Israel sei ein «koloniales Projekt», das nichts mit dem Judentum zu tun habe, in Jerusalem jemand ernst nimmt.

Foto:
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas warf Israel in seiner Rede am Sonntag unter anderem vor, die Osloer Abkommen zunichtegemacht zu haben © tachles

Info: 
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 19. Januar 2018