Über das Wesen staatsbürgerlicher Bildung
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Sollen Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern für Schulen verpflichtend werden, wie das jetzt von einigen Politikern angesichts eines wieder aufflammenden Antisemitismus gefordert wird? Oder würde das auf eine reine Symbolpolitik hinauslaufen?
Um Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Unterdrückung und Nationalismus aufzuarbeiten, bedarf es nach meiner Erfahrung eines mehrjährigen qualifizierten Unterrichts. Das Aufsuchen der Mordstätten könnte unter diesen Voraussetzungen ein ergänzendes Element sein. Ein unvermittelter Besuch hingegen liefe Gefahr, von den Schülern als Pflichtprogramm wahrgenommen zu werden, das über eine momentane Betroffenheit hinaus keine Wirkung entfalten würde.
Bei der Erörterung dieser Frage sollte zudem nicht vergessen werden, dass nach dem ursprünglichen Willen der Alliierten jede Form von Faschismus in einem künftigen deutschen Staat verboten sein sollte. Das Grundgesetz nimmt darauf in Artikel 139 Bezug: »Die zur "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.« Ein rein formales Erinnern reicht deswegen nach meiner Überzeugung nicht aus. Es geht im Kern um eine breit angelegte staatsbürgerliche Bildung und um die Vermittlung einer Ethik des Humanen.
Das einzige ehemalige Konzentrationslager, das ich je besuchte, ist die Gedenkstätte Osthofen nördlich von Worms. Damals war ich der Schulzeit längst entwachsen. Dazu angeregt hatte mich Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“, dessen literarische Vorlage dieses erste KL im seinerzeitigen Volksstaat Hessen war. Es bestand von März 1933 bis Juli 1934 und diente vorrangig der Inhaftierung politischer Gegner, also im Wesentlichen der Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten. Um die Entdemokratisierung des Staats durchsetzen zu können, sollten die Bürger in kleinen Schritten an unterdrückende Gewalt gegen Andersdenkende und Andersrassige gewöhnt werden. Zwar befand sich das Lager am Stadtrand, doch alle Einwohner konnten sich allein durch genaues Hinsehen ein Bild davon machen, welchen Repressalien die Gefangen ausgesetzt waren. Die zur Bewachung eingesetzten SA- und SS-Mannschaften rekrutierten sich überwiegend aus Ortsansässigen oder Bewohnern der Nachbargemeinden und nicht selten kolportierten sie ihre widerlichen Heldenerzählungen in den Kneipen. Die Existenz des Konzentrationslagers sollte nicht geheim bleiben; es gab sogar eine offizielle Ansichtskarte!
Die NSDAP, ein Sammelbecken von bildungsfernen, gewaltbereiten und rassistischen Spießern, von Anhängern eines antidemokratischen und nationalistischen Ständestaats und von Vertretern der Wirtschaftsmonopole, setzte von Anfang an auf die physische Vernichtung ihrer Gegner. Diesen Ungeist und seine Absichten enthüllt die Gedenkstätte Osthofen auf eindrückliche Weise.
Umfassende Kenntnisse über den NS-Unrechtsstaat und speziell über das System der Konzentrationslager waren mir von der Schule völlig unzureichend, weil widersprüchlich und zusammenhanglos, vermittelt worden. Zeitgeschichte bedeutete während meiner Schulzeit vor allem die ideologische Einstimmung auf den Kalten Krieg. Vermutlich hat mich erst die Disparatheit zwischen den verschiedenen Schilderungen und Meinungen, die mir im Alter von 15, 16 Jahren auffielen, richtig neugierig gemacht. Eine gut sortierte Stadtbücherei ersetzte mir schließlich die Lehrer und vermittelte mir die Hinterlassenschaften von Zeitzeugen.
Bei den jährlichen Gedenktagen zum Volksaufstand am 17. Juni in der so genannten Ostzone, die das Gymnasium durchführte, wurden SED und NSDAP auf eine Stufe gestellt, die Toten an der innerdeutschen Grenze zwar zu Recht beklagt, die Opfer des Nationalsozialismus hingegen nur marginal erwähnt. Stets wurde ein Faltblatt des Axel Springer Verlags verteilt, das auf der Titelseite ein stilisiertes Brandenburger Tor sowie die Forderung „Macht das Tor auf“ trug. In den ersten Jahren dieses Rituals, 1958 - 1961, war das Tor im Übrigen noch gar nicht geschlossen gewesen.
Weiteres Informationsmaterial stammte von einem angeblich überparteilichen „Kuratorium unteilbares Deutschland“, dessen Flugblätter von einer Deutschlandkarte geschmückt waren, welche die Grenzen von 1937 zeigte. Die Karte trug die Aufschrift „3 geteilt? Niemals!“. Mich erinnerte das an ein Erdkundebuch aus der Grundschulzeit: „Deutscher Osten – deutsche Heimat! Eine kleine Heimat- und Landeskunde“, verfasst von Hans Mann, erschienen bei Ferdinand Dümmler in Bonn. Die DDR wurde darin als „Sowjetisch besetzte Zone“ bezeichnet und die längst an Polen bzw. an die Sowjet Union gefallenen Gebiete Schlesiens und Ostpreußens waren als „unter polnischer/sowjetischer Verwaltung stehend“ markiert. Über die Gründe, die zu dieser Teilung bzw. zu dem Verlust führten, erfuhren wir Schüler nichts Konkretes. Nichts von den Lehrern, nichts aus dem Buch.
Ein älterer Geschichtslehrer, der mich dabei beobachtet hatte, als ich einen kritischen Zeitungsartikel zum 1963 in Deutschland erschienenen Buch des US-amerikanischen Geschichtsrevisionisten und Nazi-Sympathisanten David L. Hoggan las („Der erzwungene Krieg“), konstatierte anschließend, dass es höchste Zeit sei, mich „auf den richtigen Geist zu konzentrieren“. Mein Latein- und Religionslehrer hingegen erzählte vom Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, an dem sich auch sein Onkel, ebenfalls Theologe, beteiligt hätte. Ansonsten blieb die Schule auffällig stumm.
Erst meine intensive Beschäftigung mit seriös recherchierten Büchern und das Verfolgen öffentlicher Diskussionen, vor allem im Hörfunk, haben sich als prägend erwiesen. Die Disparatheit zwischen offizieller (schulischer) Nichtinformation und den gedruckten Berichten von politisch und rassisch Verfolgten, die mir im Alter von 15, 16 Jahren auffielen, haben mich endgültig neugierig gemacht. Mit dem erworbenen Wissen wagte ich es, mich an Gesprächen der Eltern- und Großelterngeneration zu beteiligen. Völlig unbeeindruckt hatten die Kriegserzählungen der Angehörigen sowie die Lektüre entsprechender Bücher kaum einen Jugendlichen gelassen.
Mein Vater, der vom ersten bis zum letzten Kriegstag Soldat gewesen war, zeigte sich lange Jahre irritiert über die Äußerungen des ersten SPD-Vorsitzenden nach 1945, Kurt Schumacher, zur Waffen-SS. Deren Angehörige seien „Soldaten wie andere auch“ gewesen. Das hatte mein Vater an mehreren Kriegsschauplätzen völlig anders erlebt. Seine anfängliche Sympathie für die SPD schmolz folglich immer mehr dahin. Angesichts der kontroversen Diskussion um Wiederbewaffnung und Atomwaffen votierte er, den der Krieg keineswegs zu einem Pazifisten gemacht hatte, für die Gesamtdeutsche Volkspartei des ehemaligen CDU-Innenministers Gustav Heinemann. Als diese 1957 wegen zu geringer Wahlerfolge weitgehend in der SPD aufgegangen war, wählte er ab 1965 die von dem linken Gewerkschafter Viktor Agartz und der Historikerin und Friedensaktivistin Renate Riemeck gegründete Deutsche Friedens-Union. Die warb auf ihren Plakaten mit einer Mahnung Albert Schweitzers, nämlich „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu haben.
Wiederholt habe ich in Südwest-Frankreich den 1944 von einer Einheit der Waffen-SS zerstörten Ort Oradour-sur-Glane unweit von Limoges aufgesucht, in welchem fast sämtliche Einwohner erschossen oder verbrannt worden waren. Die Ruinen verströmen selbst bei Sonnenschein Angst und Entsetzen. Doch ohne meine Vorbildung, ohne die vielfältige Auseinandersetzung mit dem NS-System, wären die Eindrücke nur von kurzer Dauer gewesen.
Aus diesen Gründen plädiere ich für eine nicht nachlassende öffentliche Beschäftigung mit dem NS-Regime, die sich keinesfalls in Symbolhandlungen erschöpfen darf sowie für eine kämpferische Auseinandersetzung mit den Ewiggestrigen. Dazu würde aktuell gehören, AfD, Identitäre, Querfront und Pegida samt ihrer Publizistik nicht länger als rechtspopulistisch zu bezeichnen, sondern als faschistische und verfassungsfeindliche Organisationen.
Foto:
Eingang zur Gedenkstätte Osthofen. © Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz
Info:
Die Frankfurter Literatur- und Kulturinitiative PRO LESEN e.V. veranstaltet im Rahmen der Reihe „Frankfurt liest ein Buch“ vom 23. bis zum 28. April im Bibliothekszentrum Sachsenhausen eine Themenwoche unter dem Titel „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, die aus einer Ausstellung über das Konzentrationslager Osthofen und einer szenischen Lesung aus Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“ bestehen wird.