kpm Tafel fur Bedurftige in Hamburg.jpgEhrenamtliche zementieren ungewollt soziales Elend

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Auch an der Resterampe der Gesellschaft hat der Verdrängungskampf eingesetzt. Arme bekämpfen Arme; die Regeln des Neoliberalismus sind offensichtlich bereits ganz unten angekommen. Das zeigt das Beispiel einer Tafel in Essen, die eine Ausgrenzung von Flüchtlingen zugunsten einheimischer Bedürftiger beschlossen hat.

Sind dort Rassisten am Werk? Diese Vermutung muss entschieden verneint werden. Die Wahrheit ist jedoch ähnlich grausam. Auch im Überfluss und angesichts ständiger Lebensmittelvernichtung ist nicht für jeden etwas vorhanden. Es kann nicht allen geholfen werden - und das in einem der reichsten Länder der Erde. In diesem gilt anscheinend auch ganz unten das alte Sprichwort: Wer zuletzt kommt, mahlt zuletzt – und muss erst mal draußen bleiben. Zumindest solange, bis der Rest vom Rest verteilt werden kann, vorausgesetzt, es bleibt noch was übrig.

Das skizzierte Problem greift tief, es berührt ein von Regierung, Parteien und Politikern leichtfertig und bedenkenlos proklamiertes Grundverständnis der Gesellschaft, das sich jedoch über die Grundsätze der gültigen Verfassung, die von der unantastbaren Würde des Menschen ausgeht, nonchalant hinwegsetzt. Nämlich: dort, wo es keine staatlichen Strukturen gibt oder wo sie bewusst nicht aufgebaut wurden, wird an die Hilfsbereitschaft des Einzelnen appelliert. Er soll ehrenamtlich helfen - mit seiner Arbeitskraft, seiner Zeit, seinem Geld. Das klingt nach selbstloser Barmherzigkeit und christlicher Nächstenliebe. Tatsächlich verhält es sich jedoch völlig anders.

Ich will versuchen, die Komplexität der Sache an einem Beispiel zu illustrieren.

Man stelle sich Folgendes vor: Regelmäßig stürzen von einer baufälligen Brücke Menschen in den darunter hindurch fließenden Strom. Einige können dank mutiger Helfer gerettet werden. Doch die Zahl der Verunglückten steigt ständig und längst nicht immer ist ein Nothelfer zur Stelle. Also platziert man am Ufer Rettungsringe und Rettungsleinen und organisiert eine Dauerwache, sogar mit einem gewissen Erfolg. Die Lebensretter werden gelobt und geehrt, Gewerbebetriebe und Banken spenden gebrauchte, aber gebrauchstüchtige Rettungsringe und sogar Rettungsboote, die ansonsten vernichtet bzw. verschrottet worden wären, weil die technische Zulassung abgelaufen war. Politiker feiern überschwänglich das ehrenamtliche Engagement. Doch niemand kommt auf die Idee, die Brücke zu reparieren oder sie gar durch ein zeitgemäßes Bauwerk zu ersetzen.

Bei den Lebensmitteltafeln für Bedürftige läuft das im Kern nicht anders ab. Unter soziologischen Gesichtspunkten kommt man nicht umhin, eine Inflation an Gesinnungsethik, aber ein himmelschreiendes Defizit an Verantwortungsethik zu konstatieren. Denn die Tafeln zementieren den nicht hinnehmbaren Status quo an Bedürftigkeit, ja, sie erzeugen sogar indirekt Armut. Weil sie statt zu einer Änderung der Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ein System des Umgangs mit sozialer Ungerechtigkeit etablieren. Letzteres als private Aufgabe, die den Staat (die Allgemeinheit) aus seiner Verpflichtung, für seine Bürger sorgen zu müssen, entlässt.

Ein leitender Vertreter der Tafelbewegung äußerte sich bereits vor wenigen Jahren durchaus selbstkritisch zu dieser Problematik: „Manche meinen auch, Vereine wie die Tafeln helfen dem Staat, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Es gibt Leute, die sagen, wir verhindern den Aufstand von unten.“

Ehrenamtliche Helfer und zunehmend auch geringfügig Beschäftigte versorgen eine steigende Anzahl von Menschen mit Lebensmitteln sowohl aus der Überproduktion der Lebensmittelbranche als auch durch spendenfinanzierten Zukauf von Lebensmitteln.

Dies führt mittlerweile zu einem Paradigmenwechsel in der öffentlichen Wahrnehmung der Tafeln sowie zu einer umfassenden Kritik an einer faktisch privatisierten Sozialindustrie. Professor Stefan Selke von der Hochschule für Angewandte Wissenschaft Furtwangen (Schwarzwald), der bekannteste Kritiker dieser sozialen Entgleisung, beanstandet seit Jahren die mangelnde soziale Nachhaltigkeit der bei Tafeln geleisteten Hilfe. Diese versorge lediglich, ändere aber nichts an den Strukturen. Selke fordert, dass sich die Tafeln selbst in Frage stellen müssten, um dadurch die irreversible Verstetigung einer Armutsversorgung ohne strukturelle Armutsbekämpfung zu verhindern. Könnten sie diese Aufgabe, die sich aus dem Selbstverständnis des sozialen Staats ergäbe, nicht bewältigen, würden sie dem Entstehen von Rationalitätsmythen und Legitimationsfassaden Vorschub leisten.

Die durch die Entscheidung der Essener Tafel aufgeworfene Frage nach der Behandlung von Flüchtlingen betrifft neben den erwähnten Aspekten weitere Gesichtspunkte hinsichtlich der Verpflichtung des Staats gegenüber sozial Benachteiligten. Sowohl aus dem Asylrecht als auch aus der von der UN-Charta geforderten temporären Schutzgewährung für Kriegsverfolgte erwächst die Notwendigkeit zum staatlichen Handeln. Und diese darf der Staat nicht seinen Bürgern aufladen. Diese dürften allenfalls kurzfristig Versorgungslücken schließen.

Foto
Tafel für Bedürftige in Hamburg
© NDR

Info:

Stefan Selke veröffentlichte zu dem Thema das Buch
Tafeln in Deutschland
Aspekte einer sozialen Bewegung
Zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention
Herausgegeben von Stefan Selke
durchgesehene Auflage 2011
300 Seiten mit 14 Abbildungen, Paperback
Ladenpreis 46,99 €
VS Verlag für Sozialwissenschaften
ISBN: 978-3-531-18005-2