Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen AfD ist ein Skandal
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im Herbst 2015 rief die AfD dazu auf, Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Demonstrationen die „rote Karte“ zu zeigen. Ihre Flüchtlingspolitik sei gescheitert und das Recht auf Asyl brauche Grenzen, hieß es in den offiziellen Aufrufen der Partei.
Bundesbildungsministerin Wanka veröffentlichte daraufhin auf der Homepage ihres Ministeriums eine Presseerklärung: „Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit unerträgliche Unterstützung.“ Das mochten die Rechtsextremisten nicht hinnehmen und pochten auf eine angebliches Neutralitätsverpflichtung der Regierung. Sie erwirkten eine einstweilige Verfügung und legten Verfassungsbeschwerde ein. Mit ersterem waren sie sofort erfolgreich. Nunmehr ist auch eine Entscheidung in der Hauptsache zu ihren Gunsten ergangen.
Doch das Urteil das Verfassungsgerichts erscheint bei näherer Analyse als nicht gesetzeskonform. Denn es setzt voraus, dass es sich bei dieser Partei um eine demokratische handelt, die sich im Rahmen der grundgesetzlichen Vorgaben (Artikel 21, Absatz 1) an der politischen Willensbildung beteiligt und deswegen in offiziellen Stellungnahmen der Bundesregierung nicht benachteiligt werden darf.
Exakt an dieser Einschätzung sind erhebliche Zweifel erlaubt. Denn die von fremdenfeindlichen, rassistischen und neonazistischen Parolen geprägten Demonstrationen gegen die Gewährung von politischem Asyl und zeitlich befristetem Schutz für Kriegsflüchtlinge (Grundgesetz Artikel 16, Absätze 1 und 2) im Herbst 2015 und auch später stellten Angriffe auf die freiheitliche demokratische Grundordnung dar (Artikel 21, Absatz 2 GG).
Hier war die Bundesregierung sogar zu einer eindeutigen Verurteilung verpflichtet. Zum einen, weil sie gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen gemäß Grundgesetz energisch vorgehen muss. Zum anderen, weil in der Bundesrepublik die Propagierung und erneute Durchsetzung von typischen Merkmalen des Nationalsozialismus verboten sind. Heißt es doch in Artikel 139 GG: „Die zur »Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus« erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“ Gemeint sind die alliierten Vorbehaltsrechte, ohne die eine demokratische Verfassung und eine Gründung der Bundesrepublik nicht möglich gewesen wären und die de facto einen immer gültigen Verfassungsgeist bedeuten, der sich in den Grundrechten spiegelt, aber nicht im Einzelnen ausgeführt werden muss. Verfassungsrichter wie Roman Herzog haben diese Bestimmung zwar in inoffiziellen Bekundungen als obsolet bezeichnet, es jedoch nicht gewagt, ihre persönliche Auffassung juristisch verbindlich zu begründen. Die Streichung oder Änderung des Artikels fand auch nie eine notwendige parlamentarische Mehrheit.
Die regelmäßigen öffentlichen Äußerungen vieler AfD-Vorstandsmitglieder im Bund und in den Ländern erfüllen eindeutig die Voraussetzungen, die Artikel 21, Absatz 2 des GG nennt, um eine Partei als verfassungsfeindlich zu klassifizieren. Es steht aber zu befürchten, dass bei einem entsprechenden Antrag durch Bundesregierung, Landesregierungen oder Parteien das BVG zu einem ähnlichen Urteil wie beim Verbotsantrag gegen die NPD gelangen könnte. Nämlich die Partei zwar als verfassungswidrig einzustufen, aber dennoch von einem Verbot (wegen deren vermeintlicher Bedeutungslosigkeit) abzusehen und der Bundesregierung lediglich finanzielle Taschenspielertricks zu empfehlen.
Darum ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen AfD-Beschwerde eine politische Katastrophe. Und sie lässt bittere Mutmaßungen zu über die Auffassungen dieses Gerichts hinsichtlich des Verhältnisses von Verfassungsnorm (Wortlaut des GG) zur Verfassungswirklichkeit (fortlaufende Weiterentwicklung von Rechtsgrundsätzen analog den gesellschaftlichen Notwendigkeiten). Das vom Gericht postulierte Neutralitätsgebot ist in dem konkreten Zusammenhang absolut weltfremd und lässt sich auch nicht aus dem Bundesministergesetz ableiten.
Ebenso realitätsfern wirkt die Meinung des Verfassungsgerichtspräsidenten, solche Äußerungen seien allenfalls in Talkshows oder Interviews statthaft. Sie lässt Rückfragen zum Medienverständnis der höchsten deutschen Richter zu.
Quintessenz: Wenn Regierung und Parlament nicht gegen die bestehende Rechtsordnung und/oder Einzelgesetze verstoßen haben, was im konkreten Fall nicht erkennbar ist, darf es dem BVG nicht überlassen werden, die Richtlinien der Politik zu bestimmen und das Grundgesetz zu einer stumpfen Waffe zu machen.
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AfD-Aufruf: Rote Karte für Merkel
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