kpm Olav Scholz verkundet das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum KoalitionsvertragDie SPD nach dem Mitgliedervotum

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Als Olaf Scholz das Ergebnis der Mitgliederbefragung im Erich-Ollenhauer-Haus verkündete, war in der SPD-Zentrale von Aufbruch, gar von Euphorie, nichts zu spüren.

Nicht eine Hand rührte sich zum Beifall. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich die Partei zwar mit deutlicher Mehrheit, aber doch schweren Herzens dazu entschlossen hatte, den Weg in eine erneute Große Koalition zu gehen. Einen Weg, der möglicherweise ihren weiteren Niedergang bedeuten wird. 78 Prozent der Mitglieder hatten sich an der Abstimmung beteiligt, 66 Prozent davon stimmten für eine Regierungsbeteiligung auf der Grundlage des Koalitionsvertrags.

Vermutlich gibt es unter den Mitgliedern und Wählern der SPD einen nennenswerten Teil, dem es ausreicht, dass die Partei überhaupt in einer Regierung vertreten ist und der die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen im Sinn des Parteiprogramms längst aufgegeben hat. So wie jener „ältere, aber leicht besoffene Herr“, den Kurt Tucholsky 1930 in einer Kurzgeschichte beschrieb. Der hatte sich nach dem Besuch mehrerer Wahlveranstaltungen dazu entschlossen, für die SPD zu stimmen:

„Was brauchst du Grundsätze, wenn du einen Apparat hast! Ich werde wahrscheinlich diese Partei wählen – es ist so ein beruhigendes Gefühl. Man tut was für die Revolution, aber man weiß ganz genau: mit dieser Partei kommt sie nicht.“

Eines dürfte sicher sein: Die Diskussionen über den Zustand der SPD, aber auch über den ihrer westeuropäischen Schwesterparteien, wird weitergehen. Die FRANKFURTER RUNDSCHAU beteiligte sich am Wochenende an Mutmaßungen über die Gründe, die zum Niedergang der Sozialdemokratie geführt haben. Hierzu zitierte sie den niederländischen Soziologen René Cuperus, Direktor eines Instituts, welches der PvdA, der niederländischen Arbeitspartei, nahesteht.
Cuperus führt den derzeitigen Niedergang der Sozialdemokratie vor allem auf einen angeblich neu entstandenen Gegensatz zwischen Gut- und Schlechtausgebildeten zurück. Mit dieser Hypothese bewegt er sich jedoch auf äußerst dünnem Eis, das sich weder philosophisch noch historisch als tragfähig erweist.

Bei der SPD lässt sich zwischen den Wahlen von 1998 und denen von 2017 ein Rückgang der Wählerzustimmung von 40,9 Prozent auf 20,5 Prozent nachweisen. Dieser Verlust beläuft sich rechnerisch auf 20,4 Prozent. Der Partei ist nahezu die Hälfte der Wähler verloren gegangen. Dafür gibt es Grund. Und er besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: Gerhard Schröder, Agenda 2010 und Hartz-Gesetze.

Diese These lässt sich sogar durch die Gegenprobe bestätigen. Denn vor etwa einem Jahr, als SPD-Kanzlerkandidat Schulz eine gerechtere Gesellschaft forderte, stiegen die Umfragewerte der Partei von 20 Prozent rasch auf leicht über 30 Prozent. Martin Schulz war kurzzeitig sogar beliebter als Angela Merkel. Diese Entwicklung mit einer Verschiebung zwischen Besser- und Schlechterausgebildeten unter der potentiellen SPD-Anhängerschaft zu erklären, ist nicht plausibel.

Die Wirklichkeit der Gut- und Besserausgebildeten, aber auch der Angelernten, lässt sich am aussagefähigen Beispiel des Siemens-Konzerns illustrieren. Denn der dort angekündigte Personalabbau durch Produktionsumstellung und -verlagerung trifft Ingenieure, Facharbeiter, kaufmännische Mitarbeiter und Hilfskräfte gleichermaßen. Trotz unterschiedlicher Berufsqualifikation haben sie eines gemeinsam: Sie alle verfügen über kein Eigentum an den Produktionsmitteln und werden folglich an elementaren Unternehmensentscheidungen nicht beteiligt.

Exakt diesen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit hat die marxistische Politökonomie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als zentralen Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft erkannt. Wie die Klasse der Werktätigen im Einzelnen zusammengesetzt ist, spielt dabei keine Rolle. Ob die Löhne lediglich zur Reproduktion der Arbeitskraft ausreichen oder ob damit auch ein komfortableres Leben oder gar die Bildung eines bescheidenen Eigentums finanziert werden kann, ist letztlich ebenfalls unerheblich. Wer drei Jahrzehnte für eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus spart und vorher seinen Arbeitsplatz verliert, ist am Ende kaum besser dran als der Leiharbeiter, der seit Schröders Agenda von Tätigkeit zu Tätigkeit vagabundiert. Aber auch weniger hochfliegende Träume scheitern häufig an Beschlüssen der Kapitaleigner.

Es ist der Kardinalfehler der Sozialdemokratie, dass sie die tatsächlichen Verhältnisse und insbesondere die Abhängigkeiten in der kapitalistischen Gesellschaft spätestens seit dem Godesberger Programm von 1959 nicht mehr transparent gemacht hat. De facto hat sie zu den Lebenslügen eines großen Teils ihrer Wählerschaft beigetragen, indem sie den Klassenkampf verleugnete und die Anpassung zum politischen Modell erklärte.

Die Bruder- und Schwesterorganisationen der SPD in Westeuropa haben sich mehr oder weniger ähnlich verhalten. Auch sie haben die notwendige Änderung der sozialen Strukturen mit einer Marketingaufgabe verwechselt. Sie wollten sich für so genannte soziale Aufsteiger interessant machen und haben die immer größere Konzentration wirtschaftlicher und vielfach auch politischer Macht auf der Kapitalseite nicht nur übersehen, sie haben das Kapital auch gewähren lassen.

Statt der neoliberalen Globalisierung, die nach dem Ende der Sowjet Union einsetzte, entgegenzuwirken, verschleuderte Gerhard Schröder das von der Arbeiterbewegung erkämpfte Tafelsilber des Sozialstaats, nämlich die Alterssicherung und die Krankenversorgung.

René Cuperus übersieht in seiner Analyse auch die Tatsache, dass die Arbeiterbewegung von Anfang an über den nationalen Tellerrand hinausgeblickt und die Internationalität der Bewegung herausgestellt hat. Fremdenfeindlichkeit war nie ihre Sache. Im Gegensatz zum Kleinbürgertum, das sich als Partner der Herrschenden verstand und versteht, obwohl es nichts zu bestimmen hat. Auch das von Marx so genannte Lumpenproletariat, das orientierungslos und unsolidarisch zwischen den sozialen Fronten umherirrt, hat eine Art Hühnerleiter des Elends definiert, auf der auf jeder Stufe auf die darunter Stehenden eingeschlagen wird. Aktuelles Beispiel dafür ist die AfD.

In dieser Situation lässt der zumindest vorläufige Erfolg von Jeremy Corbyn in Großbritannien hoffen. Unmissverständlich fordert er Verstaatlichungen, Steuererhöhungen für die Reichen sowie ein gerechtes Bildungssystem und eine drastische Reform des einst vorbildlichen Gesundheitswesens.


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Olaf Scholz verkündet das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Koalitionsvertrag
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