c reitzensteinJulien  Reitzenstein schreibt über Fritz Bauers letzter Fall

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - Julien Reitzenstein ist ein forensischer Historiker, das heißt, er erforscht Kriminalfälle der Vergangenheit, die Strafrechtsgeschichte, und in diesem Fall das Verbrechen der Nationalsozialisten, welches sich hinter der „Straßburger Schädelsammlung“ verbirgt. Dieser Geschichte ist sein neues Buch gewidmet  das diese Tage auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt wird.

Im Vernichtungslager Auschwitz wurden 115 Juden als Todeskandidaten ausgewählt, deren Schädel zu angeblichen wissenschaftlichen Zwecken dienen sollten. 86 von ihnen wurden in das Arbeitslager Struthof deportiert. In der „Straßburger Schädelsammlung“ befinden sich die Schädel von diesen 86 jüdischen Opfern, die im KZ 1943 Natzweiler-Struthof in den Vogesen, einem Arbeitslager, zum Zweck der sogenannten Rassenforschung in den Gaskammern ermordet wurden. In Struthof waren rund 52.000 Gefangene, davon 11% Juden, inhaftiert. Das Verbrechen wurde zunächst 1946 bekannt. Als Haupttäter galten der Mediziner, Anatomiespezialist und NSDAP-Mitglied August Hirt, der neben dem Anthropologen und SS-Hauptsturmführer Bruno Beger sich unter dem Protektorat von Heinrich Himmler mit pseudowissenschaftlichen Forschungen im Rahmen des NS- „Ahnenerbes“ befasste und an der „Reichsuniversität“ Straßburg tätig war.

Der berühmte Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hat sich gerade mit der Aufklärung dieses Kriegsverbrechens befasst und legte am 8. Mail 1968 eine Anklageschrift vor. Diese richtete sich nur gegen Beger, denn Hirt hatte schon 1945 Selbstmord begangen. Doch vor der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Beger starb Bauer am 1. Juli 1968 plötzlich und unerwartet unter bis heute nicht geklärten Umständen. Fritz Bauer ist jedoch nicht Gegenstand dieses Buches, sondern die Täter und die Fakten. Die Arbeit Reitzensteins führt zu einer minutiösen Bloßlegung ihrer Verbrechen, welche im Rahmen dieser Pseudowissenschaft betrieben wurden. Für Reitzenstein ist sein Buch eine Anklageschrift und der Ausgangspunkt eines fiktiven Revisions-Verfahrens zur Neubeurteilung des Urteils, welches das Schwurgericht in Frankfurt am Main 1971 gegen Bruno Beger verhängt hatte, ohne dass der Verurteilte auch nur noch einen Tag in Haft verbringen musste.

Die Arbeit an diesem Buch, das Wesentliches zur Aufklärung eines vor 70 Jahren begangenen grausamen Verbrechens beiträgt, dauerte sieben Jahre. Die umfassenden Archivrecherchen und bisher unbekannten Quellenfunde führten zu der Erkenntnis des Autors, dass „seit Kriegsende Generationen von Historikern ein Bild vom Verbrechen ‚Straßburger Schädelsammlung‘ gezeichnet haben, das nicht den tatsächlichen Ereignissen entspricht“. Der kritische Einwand des Autors lautet, dass „es bei der Aufklärung von NS-Unrecht nicht um Historiker und ihre Netzwerke gehen sollte, sondern um die Opfer und deren Anspruch auf eine sachliche, juristisch belastbare Aufklärung.“

Der junge Autor, im idyllischen Irland lebend, hat akribisch gearbeitet, um die wenig bukolische Entstehungsgeschichte der Straßburger Schädelsammlung und die begleitenden Umstände nachzuzeichnen. Er hat dieses Buch geschrieben, um Zeugnis abzulegen – somit gedenkt er auch der Opfer. Das Buch ist als Lektüre für Zeithistoriker, Mitarbeiter von Museen und Gedenkstätten, Juristen sowie alle Interessierten geeignet, die sich den immer noch zahlreichen weißen Flecken der NS-Geschichte und der deutschen Nachkriegsjustiz zu widmen bereit sind. Die Lektüre dieses schön edierten und mit informativen Abbildungen bereicherten Bandes wird durch ein Namensregister erleichtert.

Dr. Julien Reitzenstein studierte Geschichts-, Erziehungs-, und Rechtswissenschaften, ist seit vielen Jahren Lehrbeauftragter - seit 2015 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zuvor, bzw. parallel an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der Führungsakademie der Bundeswehr. Er hatte auch eine Gastprofessur für Geschichte und Politik der Architektur in Sofia inne. Neben der Erforschung des „Ahnenerbes“ gehören auch die Provenienzforschung sowie der Wirtschafts-, Wissenschafts- und Technikgeschichte zu seinen Schwerpunkten.

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Info:
Fritz Reitzenstein, Das SS-Ahnenerbe und die „Straßburger Schädelsammlung“ – Fritz Bauers letzter Fall, Duncker & Humblot, Berlin 2018, 495 S. 69,90€,