Wolfgang Wartenberg
Weltexpresso (Hamburg) - Als der Wunschkanditat Helmut Kohls für das Amt des Bundespräsidenten ab 1994 und damit als Nachfolger Richard v. Weizsäckers, der sächsische Theologe und Kirchenjurist Steffen Heitmann, während seiner Vorstellungszeit 1993 gefragt wurde, was ihm denn nach der Wende in Westdeutschland am meisten aufgefallen sei, antwortete er sinngemäß: 'Die vielen Ausländer.'
Heitmann wurde, wie man nachlesen kann, durch zahlreiche Interviews immer mehr als untauglich bis reaktionär abgestempelt, wenngleich das Hauptanliegen der Presse zweifellos darin bestand, einen Plan Helmut Kohls endlich einmal zu Fall zu bringen, was hier mit begrenztem Aufwand auch leicht gelang. Wie man auch nachlesen kann, trat Heitmann viel später, Ende 2015 nämlich, aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik Angela Merkels aus der CDU aus; er schrieb an Sie in einem offenen Brief: "Ich habe mich noch nie – nicht einmal in der DDR – so fremd in meinem Land gefühlt." ------ Tatsächlich hat sich zumindest das Straßenbild und stark auch die Zusammensetzung der Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln seit Merkels Flüchtlingspolitik verändert. Eine Zustandsbeschreibung kann keine abschließende Wertung sein. Welche Bedeutung diese Veränderungen haben werden, wird man erst in der Zukunft – und von ihr aus rückblickend – benennen können.
Die Frage nach dem Straßenbild, genauer nach einem 'deutschen Straßenbild' aber führt auch direkt zu Michel Friedman, der in einer TV-Sendung den Soldaten und Politiker Jörg Schönbohm fragte, als dieser den Ausdruck verwendete, was denn unter einem 'deutschen Straßenbild' zu verstehen sei? Schönbohm hatte, zusammen mit Friedrich Merz, 1998 eine 'deutsche Leitkultur' gefordert. Das alles verlief mehr oder weniger im Sande. - 'Ein Straßenbild, in dem Sie auffallen', wurde Michel Friedman, wenn ich mich richtig erinnere, von Schönbohm nicht geantwortet. - Die Frage ist natürlich ohnehin, ob eine solche Antwort 1998 überhaupt noch verifizierbar gewesen wäre. Und das setzt ja auch voraus, dass eine solche Antwort überhaupt einmal nachprüfend bestätigt hätte werden können; von einem 'Wert an sich' dabei einmal ganz abgesehen.
Schon 1856 stellte der Reise-Autor Carl Reinhardt in einem Bericht über Helgoland die Uneinheitlichkeit der deutschen Bevölkerung fest. (!) - Gleichwohl wurde dieser Ausdruck Ende der 1990er / Anfang der 2000er Jahre noch verwendet. Die Frage beschäftigt weiterhin. Und sie spielt natürlich, wenn auch nicht direkt, eine Rolle nun in der Diskussion im Bucerius Kunst Forum. --------- Was bedeutet Heimat? Was bedeutet (dagegen?) Weltbürgertum? ---------- Humphrey Bogart bekannte sich als Bar-Besitzer Rick in "Casablanca" zum Weltbürgertum oder treffender zur Weltgemeinschaft der Trinker.
Michel Friedman wählt – jedenfalls an diesem Abend - einen anderen Weg der Ungreifbarkeit, die vor allem eine Unangreifbarkeit sein soll: Er sagt von sich, er habe nicht eine Identität, sondern tausend Identitäten. - "Der Mann mit den tausend Gesichtern" hieß ein Film von 1957 (und auch von 2016). Einen ganz ähnlichen Titel trug der Film "Der Mann mit den tausend Masken", eine Art James-Bond-Film(verschnitt) von 1966. - In beiden Fällen geht es um ein Verwirrspiel, das die Unangreifbarkeit garantieren soll.
Ein Teil von Friedmans Familie wurde durch die Judenverfolgung des Dritten Reiches ums Leben gebracht. Dass jemand mit diesem Hintergrund unangreifbar sein möchte, überrascht nicht. Vermutlich dadurch auch die Berufswahl des Rechtsanwalts, der zum einen genau über die rechtlichen Möglichkeiten Bescheid weiß, zum andern im Beruf meist nur als Verteidiger eines Anderen, dessen Sache er verteidigt, angegriffen wird; nur mittelbar meist also. Und vermutlich daher auch die frühere starke Tendenz des Moralisierens, die vermutlich nicht immer auf Gegenliebe stieß: In Erinnerung ist noch, dass Michel Friedman vor nun bald 20 Jahren als "Zigeunerjude" beschimpft wurde. Ob dafür seine dunklen Haare in Verbindung mit seinem leicht bronzenen Teint Ursache waren - oder seine geistige Beweglichkeit, die manche, Schwerfälligere, mit Sprunghaftigkeit verwechselt haben mögen, ist überflüssige Spekulation.
Entscheidend ist, dass Friedman in letzter Instanz Recht bekam gegen den 'Republikaner', damals also den Angehörigen einer, könnte man sagen, eigenständigen Vorläuferpartei der AfD. Diese Prozesse vollzogen sich 2001 bis 2002. - Ein Jahr später geriet Friedman ins Visier der Staatsanwaltschaft in Zusammenhang mit Zwangsprostitution und Kokain-Genuss. Er zog sich daraufhin von allen öffentlichen Ämtern zurück und bat um eine "zweite Chance". - Diese Chance hat er erhalten und genutzt. Sein Herangehen an die Dinge kam jetzt aus einer größeren Distanz. Dazu fügt sich, dass er ein Philosophie-Studium auf sich nahm und 2010 mit einer Promotion abschloss. - Während der Diskussion fließt zeitweilig auch manches von seinem ehemaligen Studien-Stoff referiert in das Gespräch mit ein.
Weltbürger; Heimat; - Gegensätze? Oder bedingen sich beide Wesenheiten? Kann man Weltbürger sein ohne eine heimatliche Grundlage? Janusz Reiter verneint das. - Michel Friedman würde das immer bejahen - jedenfalls an diesem Abend. - Aber auch seine Weltläufigkeit und Liberalität hat Grenzen. Er erinnert darin an den Grünen-Politiker Cem Özdemir. Denn als Friedman 2004 die Bremer TV-Moderatorin Bärbel Schäfer heiratete, musste sie für ihn zum Judentum übertreten. - Heimat und Weltläufigkeit. - Man kann, scheint mir, diese Lebensmöglichkeiten auch aufteilen auf verschiedene Personen. Auch das mag eine Lebenshilfe sein. --------------
"Nein, er sei kein Bürger seines Stadtstaates, auch kein Grieche und doch kein Barbar – ein Weltbürger sei er", heißt es in der Vorankündigung. "Mit dieser Aussage provozierte schon der griechische Philosoph Diogenes seine Mitbürger. 2500 Jahre später, im Sommer 2016, sagte Großbritanniens Premierministerin Theresa May nach der Entscheidung über den Brexit genau das Gegenteil: 'If you believe you’re a citizen of the world, you’re a citizen of nowhere. You don’t understand what the very word ‚citizenship‘ means.' Einer aktuellen Studie der BBC zufolge, fühlen sich immer mehr Menschen nicht mehr als Einwohner ihres Heimatlandes, sondern eher als Weltbürger. Wirtschaftlich, ökologisch und demografisch zwingt uns die Globalisierung einerseits immer mehr dazu, über das Regionale, Nationale, ja gar über das Europäische hinauszudenken und so auch zu handeln. Andererseits aber werden die Gegenbewegungen in Form von nationalpopulistischen Parteien und Protesten immer präsenter. Ist das ängstlich und egoistisch? Oder ist die Heimatverbundenheit etwas menschlich Notwendiges? Welches Wissen und welche Werte und Einstellungen verbinden die 'global citizens of today'? Und vor allem: Was meinen wir eigentlich mit dem Weltbürgertum?" ------------
Nicht alle Fragen konnten berührt, geschweige denn gelöst werden: Aber als anregende Unterhaltung – im doppelten Sinne – war dieser Abend ein Gewinn, wie man auch an dem E-Mail—Wechsel sehen kann, von mir nach der Veranstaltung mit einer ausländischen Freundin geführt, aus dem hier ein kurzes Stück zitiert werden soll: Die Orthographie wurde dabei nicht verändert -: "In jedem Fall steckt natürlich ein Antisemitismus in dieser Bezeichnung. Michel Friedman (nicht, wie ich gestern schrieb: Michelle, dann wäre er ein Mädchen oder eine Frau) leistet dabei durch seine Überlegenheit möglicherweise antisemitischen Vorurteilen Vorschub. Friedman ist zwar einerseits sehr eloquent, streitbar und wortgewandt; allerdings vor allem auf der Bühne, die zwar bloßstellt, aber auch eine Schutzzone bedeutet; jenseits des Grabens kann man sich sozusagen entblößen, im Sinne von 'dem Affen Zucker geben', wie ein Schauspieler oder manche Musiker auch. Ritchie Blackmore von Deep Purple zum Beispiel auch. - Im Privaten, auf der selben Ebene wie ein Gegenüber scheint er mir eher scheu zu sein, ängstlich, vielleicht sogar feige, als Anwalt wäre das keine Besonderheit. (Die besseren sind es.) - In jedem Fall ist er eine schillernde ebenso wie unsolide oder vielleicht sogar unseriöse Erscheinung? Unterhaltsam natürlich. Vor allem im Fernsehen."
"Die Geschichte mit dem Michel Friedmann ist sehr interessant. Ich kenne auch einige grooooossse Demokraten, die privat-ausser der Bühne sozusagen-kleinig, penibel und sehr empfindlich sind, wenn man eine andere Meinung als sie selbst hat...Ich bin sehr vorsichtig, wenn es um Demokraten und Weltmenschen geht.....Wenn dazu noch diese Abergläubigkeit kommt... Und die gewisse Exzentrik bei ihm und Überheblichkeit...Auf der Bühne macht er vielleicht ein bisschen Show? - Aber ich bin erleichtet, daß er den zweiten Process doch gewonnen hatte. Zigeunerjude....Die Bezeichnung habe ich bis jetzt nicht gekannt, entweder Zigeuner oder Jude....Aber beide Gruppen wären gerne von Nazisten fast ausgerottet -also ist das eine symbolische Bezeichnung vielleicht für Nazi Opfer? -- Sorry, ich schreibe mit so vielen orthografischen und grammatischen Fehlern- -
Es hat mir sehr Deine Beschreibung von M.Friedmann angetan!!Man kann ihn sich danach sehr lebendig und genau vorstellen! Perfekt getroffen! Auch die Beschreibung von manchen Musikern, Schauspieler und Staatsanwälten! Dein Wortwahl zeigt hier Deine wahre Kunst der Sprache!" -------------
Der letzte Satz ist natürlich ein schönes Kompliment. - Michel Friedman ist nicht nur eloquent; das ist er zweifellos; er ist auch ein scharfer Denker, dem zuzuhören ein geistiges Vergnügen bedeuten kann. ------------- So darf man also schon gespannt sein auf die nächsten Brücken-bauenden Abende von 'Bridging the Gap' im Bucerius Kunst Forum in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Thalia Theater.
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© Wolfgang Wartenberg
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