Mutmaßungen über die Festnahme von Carles Puigdemont
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Deutsche Behörden schauen gern mal weg oder halten sich für nicht zuständig.
Beispielsweise im Fall des Gewaltverbrechers Anis Amri, der auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 11 Menschen ermordete und 55 schwer verletzte, obwohl er als Gefährder galt und in Abschiebehaft hätte genommen werden müssen. Im Fall von Carles Puigdemont hingegen zögerte man nicht mit einer Festnahme und mischte sich übermütig ein in eine innerspanische Auseinandersetzung. Letzteres wollten die Regierungen Finnlands und Dänemarks unbedingt vermeiden.
Doch der interne spanische Konflikt erweist sich bei genauer Analyse auch als ein europäischer. Denn die Ursachen der politischen Probleme, die zu den katalanischen Autonomiebestrebungen geführt haben, sind exakt auf jenen Neoliberalismus zurückzuführen, der sich in der Europäischen Union so ungehemmt verbreiten darf. Mir ist kein anderes europäisches Land bekannt, in dem die Finanzelite einen Staat so ausgeplündert hat. Und wo die Grenzen von Geschäftstüchtigkeit zu Lasten von normalen Verbrauchern und von Kriminalität zu Lasten des gesamten Landes anscheinend fließend verlaufen.
Die Verantwortlichen in der EU-Zentrale hätten sich nicht von Lobbyisten der Finanzinvestoren umgarnen lassen dürfen, sondern sie hätten alarmiert sein müssen von der explosionsartigen Zunahme der sozialen Gegensätze auf der iberischen Halbinsel, die seit 2008 unübersehbar war. Martin Schulz, der ehemalige Präsident des EU-Parlaments und kurzzeitige Hoffnungsträger der SPD, hatte diese Gefahren anscheinend während seiner Jahre in Brüssel verschlafen. Und Jean-Claude Juncker, der EU-Ratspräsident, hat Kollateralschäden bei den europäischen Nachbarn möglicherweise sogar bewusst in Kauf genommen, um sein luxemburgisches Finanzparadies nicht zu gefährden. Denn diese Art von spanischer Grippe wird früher oder später nicht folgenlos bleiben für den Rest Europas.
Vor diesem Hintergrund darf man getrost mutmaßen, dass die deutschen Stellen nicht nur formalrechtliche Hilfe leisteten, als sie Puigdemont in Gewahrsam nahmen und damit der katalanischen Bewegung einen zusätzlichen schweren Schlag versetzten. Nein, sie könnten damit auch die Interessen ihres eigenen Finanzsektors verfolgt haben. So wie das NS-Regime einst den Faschisten Franco mit der Entsendung der „Legion Condor“ unterstützte, um im Bürgerkrieg die spanische Demokratie niederzuwalzen und die Begehrlichkeiten deutscher Unternehmen sicherzustellen.
Doch worum geht es heute? Nur um die vermeintlich nationalistischen Interessen der Region Katalonien, die ausgerechnet im Zeitalter europäischer Einigung von Abspaltung träumt? Nein, denn diese Entwicklung war und ist eine Folge einer aggressiven Geschäftspolitik spanischer Banken. Etwa ab dem Jahr 2001 ließen Spekulanten nach der so genannten Liberalisierung des Bodenrechts in relativ kurzer Zeit vier Millionen Wohnungen bauen. Doch bereits 2008 platzte die bis dahin größte Immobilienblase in Europa. Spanien geriet dadurch in seine schwerste Krise nach dem Bürgerkrieg von 1936 bis 1939.
Parallel dazu wurde es auch von der Eurokrise erfasst und faktisch unter eine Zwangsverwaltung aus EZB, EU und IWF gestellt. Diese Troika verordnete dem Land einen rigorosen Sparkurs, der zu einer Senkung des Lebensstandards breiter Schichten führte und viele, viele Menschen der Verarmung auslieferte. Der damals einsetzende Protest war ein Katalysator für die latent vorhandenen Autonomiebestrebungen in Katalonien.
Mit den Banken wurde glimpflicher umgegangen als mit den Bürgern. 2011 verstaatlichte die Zentralregierung sechs faktisch insolvente regionale Sparkassen, die zur Bankia Gruppe zwangsvereinigt wurden. Zu ihrem Chef wurde Rodrigo Rato bestimmt, der als Wirtschafts- und Finanzminister für die Immobilienblase verantwortlich gewesen war. Den spanischen Steuerzahler kostete die Rettung der Bankia 22,4 Milliarden Euro.
Die Fusionierung der Bankia mit der Banco Mare Nostrum belastete den Steuerzahler mit weiteren 1,1 Milliarden Euro. Im Jahr 2017 verkaufte die Großbank Santander 51 Prozent ihres Immobilien-Portfolios zu einem Drittel des Buchwertes an die US-amerikanische Investmentgesellschaft Blackstone. Diese Heuschrecke avancierte dadurch zum größten privaten Immobilienbesitzer Spaniens. Etwa zeitgleich setzten sich zehntausende Spanier gegen die Zwangsräumung aus ihren Wohnungen und Häusern zur Wehr, ohne dabei aber erfolgreich zu sein.
Doch der spanische Deal war noch nicht zu Ende. Im Juni 2017 erwarb Santander die Banco Popolar Espanol zum symbolischen Preis von einem Euro. Die Aktionäre der Banco Popular verloren dadurch 1,2 Milliarden Euro, die Inhaber nachrangiger Anleihen zwei Milliarden. Ermöglicht wurde das durch die Anwendung der „Bail-in“-Regelung, die in der EU gesetzlich vorgeschrieben ist. Dadurch wurden vor allem Kleinaktionäre um ihr Geld gebracht. Sie können sich in der Regel nicht gegen diese Art der Enteignung wehren. Ganz im Gegensatz zu Hedgefonds, die gerichtliche Schritte gegen den Verlust ihrer Gelder einleiteten.
Vor diesem Hintergrund wird eines klar: Die Entmachtung der katalanischen Regionalregierung und jetzt die Festnahme ihres ehemaligen Präsidenten hat nur einen Nutznießer: Und dieser ist die internationale Finanzindustrie.
Foto:
Carles Puigdemont
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