Weltexpressoautor Hanswerner Kruse über seine Studentenbewegung, Teil 1/2
Hanswerner Kruse
Schlüchern (Weltexpresso) - 1963 als Hauptschüler mit fünfzehn in die Mechanikerlehre in Wilhelmshaven.. Ich habe noch den Ölgestank der düsteren Fabrikhallen in der Nase, die entwürdigende Anmache der Ausbilder in den Ohren: „Du Kloake!“ Sinnlose Löcher bohren, sinnlose Bleche feilen, sinnlose Gewinde schneiden, sinnlose Flächen fräsen. Für die Ausgelernten Brötchen kaufen. Hinter ihnen her putzen. Die Gänge fegen. Vom Feilen große Blasen an den Händen, von Metallspänen aufgerissene Finger, Pickel ohne Ende, der wachsende Körper gefesselt, eingezwängt, zerdrückt. In Nyltest-Hemden und Trevira-Hosen ungelenkes Geschiebe in der Tanzschule. „Bist du oft hier?“, sehnsüchtig verklemmte Annäherungen an die Mädchen. Und Eltern, die die alles schönreden. Abends höre ich das Nachtprogramm von Radio Bremen, seltsam schräge Klänge von Boris Blacher oder Anton Webern und György Ligeti. Was später „Neue Musik“ hieß und heute noch als elitär gilt, kündete mir hoffnungsvoll von einem ferneren Leben.
Von meiner ehrgeizigen Mutter in die Abendschule getrieben, um was Besseres zu werden: „Damit Du mal Ingenieur werden kann“. Der pöbelnde Meister fand das nicht so gut, „Du kannst dich nicht genug auf die Arbeit konzentrieren“, aber ich hatte nach einem Jahr schon gelernt, wenn denen etwas nicht gut tut, tut es mir sehr gut! Um 22 Uhr nach der Schule, meine Eltern schliefen und mir tat sich eine neue Welt auf. In der anrüchigen Bar „Esprita“, Onkel Rudi, der Polizist raunte „da verkehren die 175er“, oder im geheimnisvollen „Moulin Rouge“, einer Kneipe französischer Provenienz, traf ich Gammler, Schwule, Künstler, Leute vom nahen Stadttheater, die anders waren als alle die ich kannte, die anders dachten, anders sprachen, anderes lasen. Ich spürte, es gibt dieses andere, dieses wirkliche, dieses wilde Leben jenseits von Fabrik und Familie.
Nach einem halben Jahr hatte ich einen Parka, in die Stirn gekämmte Haare, immer ein Buch bei mir und konnte in der „Esprita“ anschreiben lassen: Ich gehörte dazu und hatte ein paar fremde Freunde.
„I can't get no satisfaction, 'cause I try and I try, I can't get no!” Die Stones kamen und Mick Jagger schrie heraus, was wir fühlten! Und es schäumten die Erwachsenen, die Ausbilder, die Berufsschullehrer: „Diese langhaarigen Affen“ oder „Was für ein Abschaum“. Und wieder hatte ich das Gefühl, wenn die was ablehnen, dann kann das nur gut für mich sein.
Auch im Wilhelmshavener „Schützenhof“ war die Zeit der Dorfmusik vorbei. Bands aus dem Hamburger Star-Club spielten sonntagnachmittags auf dem „Ball der Jugend“, die Liverbirds, die Lords, die Rattles: „mashed potatoes yeah, mashed potatoes yeah“. Schlichte Texte doch wir begannen zu tanzen, wir hüpften und schüttelten uns, wir entfesselten uns, wir schrieen, wir fühlten unsere Körper. Und entdeckten auch die Mädchen!
In der Lehre wurde ich zickig, Mopeds fahrende Lehrlinge nannten mich „Exi“ und selbst der Betriebsrat forderte, ich solle eine Bartbinde tragen, damit mein Flaum nicht in die Maschinen käme. Natürlich trat ich sofort aus der IG-Metall aus und traf weitere Unzufriedene. Wir versuchten die törnende Wirkung von Muskatnuss herauszufinden, gingen beim ersten Chinesen in der Stadt essen und bekamen aus Nürnberg für 5 Mark Privatrezepte für Eugynon, die Pille für unsere Freundinnen.
Wir trafen ‚Genossen’ von der illegalen KPD, die mit uns „Das Kapital“ lesen aber für unsere sexuelle Befreiung ihre Wohnungen nicht hergeben wollten. Deshalb wurden wir Provinzanarchisten, schrieben „I Like Stones“ auf Lenins Glatze, sahen Italo-Western, lasen Marcuse und Bakunin, vor allem aber verschlangen wir Wilhelm Reich aus der Stadtbibliothek: „Sie wollen das ganze Menschengeschlecht in ihre Zwangsjacke stecken, weil sie unfähig sind, die natürliche Sexualität mitanzusehen. Die Sexualscheu und Sexualheuchelei bilden den Kern dessen, was man Spießertum nennt!“. Und nun ließen wir uns von unseren sexualfeindlichen Spießer-Eltern nichts mehr sagen. Wir machten sie persönlich für Faschismus und Vietnamkrieg verantwortlich. Bob Dylan sang: „Come mothers and fathers/ Throughout the land/ And don’t criticize/ What you don’t understand/ Your sons and your daughters/ Are beyond your command...”
Meine erste Tramptour in das faschistische Spanien endete (zum Glück!) zuerst im Regen kurz vor Lyon, dann im französischen Knast in Besancon. Mit ein paar echten Gammlern hatte ich etwas Wein bei einem Pfarrer geklaut. Die Flics wollten uns alle Diebstähle der Gegend anhängen und ich blieb vier Wochen gefangen. Etwas kleinlaut kam ich zurück, aber jetzt hieß ich Onz (franz. für Hans) und konnte spannende Geschichten aus dem Ausland erzählen. Und dann waren auch endlich Lehre und Abendschule vorbei, ich liebte Uschi, eine echte Gymnasiastin. Aus dem Stegreif konnte sie stundenlang über Camus Absurdität der Existenz quasseln...“
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Über den Autor
Der 1948 geborene Hanswerner Kruse wurde nach 1968 ein relativ bekannter Keramiker mit eigener Werkstatt im Taunus. Er studierte parallel Pädagogik, Kunstgeschichte und Soziologie in den 1980er-Jahren in Frankfurt und widmete sich zugleich aktiv der Performance-Kunst. War dann ab 1989 zwanzig Jahre lang hauptberuflicher Mitarbeiter in der Erwachsenenbildung beim Landeswohlfahrtsverband Hessen (dem Träger der psychiatrischen Einrichtungen in Hessen) zur Unterstützung der Psychiatrie-Enquete. Kruse pendelt seit zehn Jahren als freiberuflicher Kultur-Journalist zwischen Berlin und Osthessen, schreibt hauptsächlich für die Fuldaer Zeitung sowie online für den Frankfurter weltexpresso.de - Schwerpunkte Film, Tanz und Bildende Kunst. Er lebt mit seiner Frau, der Bildhauerin Hannah Wölfel, in einer Ü-60-Wohngemeinschaft in Schlüchtern, wenn er nicht in Berlin ist.
www.hanswernerkruse.com