u jerusalemDAS JÜDISCHE LOGBUCH 

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Jerusalem, April. Gadi Gvaryahu ist Schomer Schabbat, trägt die Kippa Sruga. Geboren ist er in Jerusalem. Seine Mutter ist eine Sabra in der vierten Generation Jeruschalmi. Der Vater, Holocaust-Überlebender aus Osteuropa. Es ist Jom Haschoah. Eine Stunde vorher stand das Land zwei Minuten still. Dieser Spaziergang geht vom Tsahal-Platz vorbei am Bürgermeisterbüro, am Jerusalemer Gericht vorüber hin zum Zion-Platz durch die Ben-Jehuda-Strasse. Es ist ein warmer Sonnentag. Entlang des Weges finden sich die Gedenktafeln an Attentate in den 1990er- und 2000er-Jahren. «Jedes Attentat ist eine Katastrophe für Opfer und ihre Familien. Es ist auch meist Auftakt für die Revanche.»

Gadi läuft mit einem anderen Blick durch die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Seine Stadt. Hinauf über die Ben Jehuda geht es in Richtung der Yeshurun-Synagoge. Dort ging Gadi täglich beten. Wie schon sein Vater. Dort lauschte er seit den 1960er-Jahren am Schabbat jeweils den Divrei Thora von Yeschaju Leibowitz. Studiert hat er Agrikultur und lebt mittlerweile in Rehovot. Militärdienst leistete er nach dem Jom-Kippur-Krieg.

Gadi leitet die Organisation Tag Meir. Gegründet wurde sie 2011 und bezeichnet sich als moderate orthodoxe NGO und vereint religiöse und säkulare israelische Organisationen mit dem Hauptziel: «Wir wollen den Teufelskreis von Verbrechen und Revanche durchbrechen.» Nach Attacken oder oft mörderischen Ereignissen besucht die Organisation die Familien der Opfer, spricht ihnen ihr Beileid aus und kümmert sich um Hinterbliebene. «Rache und Revanche sind ein Problem.» Bringen Araber Juden oder Juden Araber um, kommt es zu Attacken, dann wird die Aufklärung der Fälle nicht nur Polizei und Gerichten überlassen. Auf arabischer und jüdischer Seite gibt es extreme Gruppen, die Revanche nehmen. Der Gang durch Jerusalems Strassen mit Gadi folgt einer unsichtbaren Blutspur durch die seit Jahren umkämpfte Heilige Stadt.

Alle paar Meter zeigt Gadi auf Gedenktafeln in Erinnerung an Opfer. «Arabische Opfer finden nur Erwähnung, wenn sie Opfer waren etwa bei Attentaten auf israelische Busse.» Die Organisation setzt sich bei der Stadtverwaltung ein, dass aller Opfer unabhängig von Religion und Ethnie gedacht wird. Sie vereint mittlerweile über 50 meist von religiösen Jüdinnen und Juden geleitete Gruppen, die täglich auf allen Seiten der so heterogenen israelischen Gesellschaft den multikulturellen Frieden und ein friedliches Zusammenlegen fördern. Gadi weiss, dass ein Teil der Gewalt immer auch im Namen der Religionen geschieht.

Er und seine Organisationen stellen sich allerdings auf den Standpunkt, dass Religionen Ausgangspunkt für Frieden und Humanität sein würden. In Rehovot hat Gadi die Rabin-Synagoge gegründet. Sie der Ausgangspunkt des Engagement des praktizierenden Israeli. Täglich werden Familien in allen Teilen Israels besucht. An diesem Nachmittag geht es nach Nablus. Der Tag startete vor dem Jerusalemer Friedensgericht. Dass diese Arbeit effektiv ist und mehr als gutgläubiges ziviles Engagement, attestieren ehemalige Leiter des israelischen Inlandgeheimdienstes Shabak. Die letzte Station ist ein kleines Steinhaus unmittelbar neben Jerusalems Markt Machane Jehdua. Vor einigen Wochen wurde es von einer Siedlergruppe angezündet. Darin befanden sich illegale eritreische Flüchtlinge.


Foto:
Jerusalem
©Tourist Israel

Info:
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. April 2018