Interview des jüdischen Wochenmagazins mit der Zürcher Ombudsfrau Claudia Kaufmann
Yves Kugelmann
Zürich (Weltexpresso) - Die Zürcher Ombudsfrau Claudia Kaufmann wurde mit dem Ehrendoktor der Universität Zürich ausgezeichnet, mit tachles spricht sie über ihre Arbeit, ihr Engagement und die Gleichstellung der Frauen.
tachles: Vor rund 30 Jahren leiteten Sie das Eidgenössische Gleichstellungsbüro in Bern. Doch immer noch sind wesentliche Ziele nicht erreicht. Wie beurteilen Sie dies heute?
Claudia Kaufmann: Angesichts des Ausmasses an historischer Geringschätzung bis hin zur Gewalt gegen Frauen ist kaum zu erwarten, dass diese im Laufe eines Menschenlebens auf Null zurückgeht. Eine solche Erwartung wäre falsch. Insgesamt gibt es in der Entwicklung sicher enttäuschende Elemente wie etwa Gewalt jeglicher Art gegen Frauen oder die noch immer von gewissen Seiten schöngeredete Lohndiskriminierung, aber doch auch bleibende Veränderungen, die Quantensprünge bedeuten. Die Situation der Frauen in der Gesellschaft hat sich wesentlich verbessert. Die Tatsache, eine Frau zu sein, muss heute für die Biografie nicht mehr bestimmend sein, und die Breite an Möglichkeiten des Frauseins
hat stark zugenommen, beispielsweise im Bildungs- und Kulturbereich, im öffentlichen Leben oder in der Politik. Natürlich kann man dazu immer Gegenstatistiken bringen – aber Gleichstellung ist nie ein linearer Prozess. Es gibt Themen mit Verbesserungen, mit Stillstand oder mit Rückschritt.
Die Gleichstellung ist in der Verfassung festgeschrieben. Ist es nicht befremdend, dass ein Verfassungsartikel nicht schnellstmöglich umgesetzt wird?
Das ist richtig. Anderseits ist der Verfassungsartikel aber noch relativ jung, noch keine
40 Jahre alt. Und es ist noch nicht sehr lange her, dass beispielsweise Männer ihren Ehefrauen eine Erwerbstätigkeit verbieten durften. Es ist also doch einiges geschehen, vor allem gemessen am Umstand, dass solche Themen sehr sperrig und schwierig sind. Die Verfassung ist überdies nur eine Stütze, wenn auch eine ganz wesentliche. Es gibt ein Umsetzungsgesetz, das Gleichstellungsgesetz, welches die Position der Frauen im Erwerbsleben verbessern und Gleichstellung fördern will. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass dies alleine auch nicht ausreicht. Es wäre daher sinnvoll, dieses Gesetz zu verschärfen. Der aktuelle Versuch, der im Parlament behandelt wird, beinhaltet allerdings einen technokratischen Ansatz mit wenig griffigen Massnahmen. Der Widerstand schon gegen verwässerte Vorschläge ist also gross. Es wird immer einen gesellschaftlichen Faktor geben, den man nicht ins Recht fassen kann. Das Recht alleine wird es nie richten können!
Übergeordnet scheint es, dass Grundwerte in der Gesellschaft nicht nachhaltig sind, wenn niemand genau hinsieht und Missstände öffentlich macht. Was kann man tun, dass sie nicht ständig neu verhandelt und gesichert werden müssen?
In dieser Hinsicht bin ich skeptisch. Ich hätte mir bis vielleicht vor fünf Jahren nicht vorstellen können, dass auch unbestrittene demokratische Grundwerte und Errungenschaften in Frage gestellt werden können, dass man Gesetze abschaffen, Verfassungsnormen nicht einhalten und Völkerrecht anfechten kann, dass wir in der Schweiz und Europa wieder ernsthaft um Rechtsstaatlichkeit kämpfen müssen. Es ist in der Tat so: Es gibt keine Garantie für die Sicherung von Grundwerten unserer Gesellschaft, von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Das zeigt, wie absolut erforderlich es ist, dass es ein Völkerrecht, ein Verfassungsrecht und Gremien in Form einer Gerichtsbarkeit gibt, die anrufbar sind. Und es zeigt, dass einmal Erreichtes nicht in Stein gemeisselt ist. Es gilt, wachsam zu sein und sich einzusetzen. Umso dankbarer bin ich, dass die junge Generation zum Teil genau hinschaut und sich in ganz neuen Formen äusserst wirksam engagiert.
Die «MeToo»-Debatte beispielsweise hat ja bis tief in die Gesellschaft hinein gewirkt.
Ja, und ich denke auch an die letzten Abstimmungen bei uns, die gezeigt haben, dass es doch Einsatz für die Grundwerte und -haltungen aus ganz unterschiedlichen Kreisen gibt sowie grosses Engagement und Sensibilität für Ausländer- und Flüchtlingsfragen.
Aber auf die gesunden Reflexe der Jungen können Minderheiten sich dennoch nicht wirklich abstützen, und ihr Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit kann ja nicht von einer momentanen politischen Grosswetterlage abhängen.
Das ist richtig, und deshalb erfüllt mich die gegenwärtige politische Grosswetterlage mit Sorge. Gegen Rassismus, Sexismus, Diskriminierung und Ausgrenzung musste schon immer gekämpft werden. Aber dass Rechtsstaatlichkeit und selbst liberale Grundrechte institutionell in Frage gestellt werden, ist eine neue Erfahrung, die wohl niemand von uns dachte, nach 1945 wieder erleben zu müssen.
Und was soll man machen?
Glücklicherweise gibt es ja ein vielfältiges Engagement, auch wenn es natürlich darauf ankommt, wohin wir unseren Blick richten: auf die Schweiz, auf Europa oder die Welt. Hierzulande haben die letzten Abstimmungsresultate doch gezeigt, dass breite Kreise der Zivilgesellschaft sensibilisiert und auch bereit sind, sich zu engagieren, teils in ganz neuen und unkomplizierten Formen, die oft nicht von den Parteien angestossen werden. Viele Bürgerinnen und Bürger haben erkannt, dass es diese Wachsamkeit und den Einsatz braucht, aber auch den Mut, die Stimme zu erheben.
Sie haben Ihre Karriere weitgehend bei Behörden gemacht. Lag damals Ihr Vertrauen stärker beim Staat als bei der zivilgesellschaftlichen Ebene?
Die Entwicklung lief eigentlich genau umgekehrt. Mein politisches Erwachsenwerden geschah in der neuen Frauenbewegung, meine erste Demonstrationsteilnahme galt dem Kampf gegen ein AKW in Kaiseraugst, und ich trat als Schülerin Amnesty International bei. Dort fühlte ich mich jeweils sehr wohl, hatte aber dennoch keine Scheu vor der staatlichen, institutionellen Ebene, an der ich die strukturelle Verbindlichkeit schätzte. Das war damals eine eher ungewöhnliche Position. Denn die Frauenbewegung stand staatlichen Einrichtungen und dem Recht als Hüter des Patriarchats sehr skeptisch gegenüber. Bei all meinen beruflichen Aufgaben gehörte es dazu, die Zivilgesellschaft und die NGOs zu unterstützen, aber anderseits deren Engagement, Wissen und Möglichkeiten, anders vorzugehen und sich konsequenter und schneller einsetzen zu können, wiederum zu nutzen. Als Ombudsfrau sehe ich heute erneut, wie viel Einsatz an Zeit und Geld die Zivilgesellschaft leistet für das Wohlbefinden der Bevölkerung.
Dann kam der Tag, da Sie als Generalsekretärin im Bundesdepartement des Inneren ihre Arbeit aufnahmen. Konnten Sie viele ihrer Zielsetzungen umsetzen?
Damals ging es zum einen darum, einen einschneidenden Sozialabbau zu verhindern. Anderseits galt es auch, zu vielen Alltagsfragen die Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft, den NGOs und dem Staat zu fördern. Zu dieser Zeit begegnete man den NGOs auf Augenhöhe und betrachtete sie nicht als Bittsteller, die lediglich Subventionen einforderten. Ich erlebte in allen Fragen einen sehr gewinnbringenden, stärkenden Austausch. Im EDI ging es ja genau um das gesellschaftliche Zusammenleben, um Gesundheit, Soziales und Kultur. Es galt, jeweils zu definieren, wo es primär um rechtliche Stärkung und wo um Umsetzung ging, was neue Gesetze für die Bevölkerung im Alltag bedeuten.
In diese Zeit fiel auch die Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Was bedeutete das für Sie?
Es war für mich sicher keine einfache Erfahrung, sondern eine Herausforderung, die mich zwang, mich selbst immer wieder zu positionieren, zu trennen, was zum persönlichen und was zum professionellen Bereich gehörte. Da gab es teils recht grosse Schnittmengen, aber daraus konnte ich viel lernen, etwa den persönlichen Teil richtig einzuordnen und ihm trotzdem den gebührenden Platz einzuräumen.
Die Identitätsfrage stellte sich wohl damit nochmals neu – was aber vermutlich auch bei der Frauenthematik zutrifft.
Ja. Wie auch beim Antirassismus-Artikel und dem Einsetzen der Antirassismus-Kommission auf Bundesebene. Auch da sollten wir uns im Übrigen fragen, wo wir heute stehen, weshalb wir noch nicht weiter sind. Und auch hier sind der Kampf dafür, die Inhaltsdebatte und der Umstand, überhaupt Institutionen zu haben, wichtig. Wobei das Vorhandensein der Institutionen natürlich nicht bedeutet, dass alle Probleme gelöst wären.
Nach 18 Jahren Bundesverwaltung gingen Sie nach Zürich, wurden Ombudsfrau und wurden auf einer anderen Ebene – nämlich dem Alltag – mit dem konfrontiert, was sie damals in Bern mit entwickelt haben. Welche Möglichkeiten haben Sie, dies nun zu vertreten?
Es geht ja häufig um die gleichen Themen, die mich auf Bundesebene beschäftigt haben. Nur kommen sie jetzt über Einzelfälle auf mich zu. Das interessiert mich sehr, aber nebst der Hilfe für die Einzelperson besonders unter dem Gesichtspunkt, was die Verwaltung daraus lernt, wo strukturelle Massnahmen nötig sind, wo das bisherige Recht zu schwach ist, wo Lücken bestehen. Ein Geschäft ist deshalb mit Beratung oder Gutheissung einer Beschwerde im Einzelfall nicht abgeschlossen.
Und dieses Engagement über den Einzelfall hinaus wird von Ihrem Umfeld gutgeheissen?
Ja, absolut. Die Stadtverwaltung geht darauf ein, wenn ich grundsätzliche Fragen stelle und wissen möchte, wie sie nun mit einer Sache mit Blick auf die Zukunft umgehen wird. Ich kann auch Vorschläge für Verbesserungen in einer Verwaltungsabteilung generell oder selbst für gesetzliche Anpassungen einbringen.
Haben Sie auch Spielraum, um praktisch zu helfen und zu handeln?
Effektiv, und dies ist ein guter Teil meiner Motivation für die teils nicht leichte Einzelfallarbeit, die immer im Zentrum der Ombuds-
tätigkeit steht. In einer guten Verwaltung mit hochmotivierten Leuten wie in der Stadt Zürich ist sehr vieles möglich.
Vermutlich fliessen die grossen europäischen Themen wie Flüchtlingskrise, Jugendarbeitslosigkeit, etc. auch in Ihre Arbeit ein. Wie verhält es sich damit?
Es gibt sicher zu jedem dieser Themen Fälle, die uns beschäftigen. Aber diesbezüglich sind wir in der Stadt Zürich an einem sehr privilegierten Ort: Der Anteil der ausländischen Bevölkerung ist gross, das Miteinander der vielen Minderheiten eingeübt und grösstenteils selbstverständlich, der Umgang mit Flüchtlingen professionell. Die Stadt setzt sich ernsthaft für die Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots für alle ein. Man ist bereit, hat die Mittel und Ressourcen und zeigt das erforderliche Engagement zugunsten der gesamten Bevölkerung.
Minderheiten stellen auch Ansprüche. Wo liegen die Grenzen der Stadt, des Kantons, der Verwaltung, diese zu erfüllen?
Je nach Fragestellung kann jeder von uns ab und an zu – mindestens – einer Minderheit gehören. Nun gibt es Minderheitenpositionen, die sich gesellschaftlich nicht signifikant auswirken oder gar förderlich sind, andere hingegen sind eher oder bestimmt mit Nachteilen verbunden. Aber jede Mehrheitsgesellschaft hat sich um Minderheiten zu kümmern, denn sie sind Teil von ihr. Ich meine, dass es der Schweiz gut geht, hat auch damit zu tun, dass es ihr bei allen Schwierigkeiten gelingt, diese soziale Klammerfunktion immer wieder zu bewahren. Das geht aber nur, wenn es ein Interesse, eine Sensibilität und ein Wissen dazu gibt, und dies ist eine Vorleistung der Mehrheit in ihrem eigenen Interesse. Die Grenzen stellen die wesentlichen Grundwerte unserer Gesellschaft und die Rechtsordnung dar, die nicht zur Disposition stehen. Alles andere sind Aushandlungsprozesse, zu denen gehört, dass Minderheiten sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen und sich einbringen – und einbringen können. Vermieden werden müssen dabei verstecktere Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung wie etwa kulturelle Zuschreibungen – «das ist bei denen halt so ...» –, und diese haben leider in letzter Zeit wieder zugenommen.
Sie verfügen persönlich über sehr starke Argumente, um solche hochkomplexen Diskussionen überhaupt führen zu können, und solche stehen den Schwachen der Gesellschaft meist nicht zur Verfügung. Wie können sie sich so in die Debatte einbringen?
Viele Menschen haben ihre Erfahrungen und ihr «Miteinander». Das ist mindestens so viel wert wie ein gutes Argumentarium. Man darf doch auch auf das vertrauen, was man im Alltag erlebt, was man am Arbeitsplatz mitbekommt, was die Kinder in der Schule untereinander erfahren. Wir haben in den Städten ein sehr gutes Zusammenleben der vielen und vielfältigen Gruppierungen von Menschen. Das heisst: Je selbstverständlicher das Zusammenleben ist, das sicher nicht immer einfach ausfällt und immer neue Fragen aufwirft, deren Antworten ausgehandelt werden müssen, desto besser funktioniert es.
Glauben Sie daran, dass diesbezüglich das Vernunftsargument stärker bleiben wird als die gegenläufigen Entwicklungen in Europa?
Diese Entwicklungen machen mir sicher Sorge. Aber wir haben doch gar nichts anderes als das Argument der Vernunft, die Aufklärung und den Verweis auf die funktionierende Praxis (vgl. tachles 17/2018)!
Foto:
Claudia Kaufmann mit UZH-Rektor Professor
Michael Hengartner
© tachles
Info:
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. Mai 2018