...und ein Brief meines Vaters mir das Leben rettete
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Wie lange ich zu gehen haben würde, wusste ich nicht. Der Krieg war zu Ende, und ich wollte nach Hause. Vor mir lagen etwa fünfhundert Kilometer. Züge oder Busse gab es nicht. Ich musste den Weg in meine Heimat auf der böhmischen Seite des Riesengebirges zu Fuß zurücklegen. Dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war, hatte ich vor ein paar Stunden von russischen Soldaten erfahren, denen ich am Morgen des 9. Mai 1945 am Stadtrand von Treuenbrietzen in die Arme lief. Es war nicht meine erste Begegnung mit der Roten Armee. Eine Woche davor war ich in Berlin als knapp 18jähriger Soldat der deutschen Wehrmacht in russische Gefangenschaft geraten, hatte aber nach drei Tagen während einer nächtlichen Rast in Trebbin fliehen können.
Fünf Tage und fünf Nächte versteckte ich mich im Wald, bis mich der Hunger in die Nähe von Menschen trieb. Aus einem Haus stürmten drei oder vier sowjetische Soldaten auf mich zu. Sie lachten und riefen: »Woina kaput, Woina kaput.« Krieg kaputt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was sie mir sagen wollten. Die Wehrmacht hatte in der Nacht kapituliert. Ich fragte nach etwas Essbarem. Einer der Soldaten lief zurück in das Haus und brachte mir ein Stück Brot und ein Kochgeschirr halb gefüllt mit Zucker. Eine seltsame Nähe verband mich in diesem Augenblick mit den fremden Soldaten. Waren sie nicht auch arme Schweine? Einer der Rotarmisten band mir einen Fetzen weißen Stoffs um den linken Oberarm und sagte: »Du nach Chause.«
Um künftig nicht schon von weitem als Landser erkannt zu werden, so nannte man die Soldaten damals, entledigte ich mich so schnell es ging meiner Wehrmachtsjacke und streifte eine Windbluse über, die ich am Straßenrand in einem Haufen weggeworfener Kleidungsstücke entdeckt hatte. Als ich Stunden später wie gewohnt an die linke Brusttasche griff, zuckte ich zusammen. Dort steckten die Briefe meines Vaters, die mich, wenn einmal alles vorbei war, als Sohn eines Hitlergegners ausweisen sollten. Ich hatte sie in der weggeworfenen Wehrmachtsjacke vergessen. Mit fliegendem Atem rannte ich zurück, aber inzwischen hatte jemand sämtliche Taschen geleert. Verzweifelt tastete ich den Stoff immer wieder ab und fand schließlich am unteren Rocksaum zwischen Futter und Stoff einen der Briefe, der durch ein Loch nach unten gerutscht sein musste.
In Kurzlipsdorf, einem kleinen Ort etwa zwanzig Kilometer südlich von Treuenbrietzen, klopfte ich am Abend an die erstbeste Tür und fragte nach einem Nachtlager. Ich wurde freundlich aufgenommen. Zum ersten Mal seit Wochen schlief ich in einem Bett. Am nächsten Morgen marschierte ich weiter. Da ich nichts besaß, womit ich mich hätte ausweisen können – mein Soldbuch hatte ich weggeworfen –, mied ich größere Orte. In der Nähe von Pirna brachte mich ein Mann mit seinem Ruderboot ans andere Ufer der Elbe. Auf Waldwegen überquerte ich bei Sebnitz die sächsisch-tschechische Grenze. In Vrchlabi (Hohenelbe) rief ich aus der Wohnung von Bekannten meinen Vater an und signalisierte ihm meine bevorstehende Heimkehr. In Hostinné (Arnau) wurde ich von einer bewaffnete Zivilstreife angehalten. Die Männer trugen Armbinden mit der Aufschrift SNB, Stráž Národné Bezpečnosti, auf Deutsch Wächter der nationalen Sicherheit. »Němec?« fragten sie, Deutscher? Ich nickte. Sie brachten mich in ein großes Gebäude, wo uns Männer mit umgehängten Gewehren umringten. Was weiter geschehen würde, schien festzustehen: Ich sollte erschossen werden. Es ging nur noch darum, wer es macht. Die Männer dachten wohl, dass ich sie nicht verstehe, aber ich verstand jedes Wort. Lähmendem Entsetzen packte mich. Wild hämmerte mein Herz gegen die Rippen und die Beine wurden mir schwer wie Blei. Die Auflehnung gegen das blinde Wüten des Schicksals schüttelte mich wie ein Krampf. Zu Hause wussten sie schon, dass ich in den nächsten Stunden vor ihnen stehen würde - und jetzt das.
Plötzlich wurde es still. Die Männer traten zur Seite und salutierten. Ein Mann in hellem Trenchcoat, den sie mit »Pane velitele«, Herr Kommandant, anredeten, forderte mich auf, ihm zu folgen. Der wird dich jetzt erschießen, ging es mir durch den Kopf. In einer provisorischen Polizeiwache auf der anderen Straßenseite wurde ich von Männern in dunkelblauen Uniformen nach Waffen durchsucht. Anschließend tastete mich der Mann im Trenchcoat noch einmal ab und zog mit spitzen Fingern den Brief meines Vaters aus meiner Jacke.
Ohne den Blick von mir zu wenden, machte er ein paar Schritte nach hinten und las dann laut vor, was mein Vater geschrieben hatte. »Soll denn unsere Jugend völlig verbluten? Wann wird das Volk endlich von der Kriegsfurie erlöst?« Mit ernstem Gesicht trat er schließlich dicht an mich heran und sagte mit gepresster Stimme in gebrochenem Deutsche: »Dieser Brief hat dir das Leben gerettet«. An die Polizisten gewand befahl er: »Stellt ihm einen Passierschein aus.« Dann verließ er grußlos den Raum. Als ich auf die Straße trat, regnete es. Meine innere Anspannung löste sich. Tränen schossen mir in die Augen und rannen vereint mit den Regentropfen über meine Wangen. Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen. Wieder ging meine Hand zur linken Brusttasche, in der neben dem Brief meines Vaters der rettende Passierschein knisterte..
Fotos:
© privat
Info:
Durch ein redaktionelles Versehen erscheint dieser für den gestrigen 8. Mai gedachte Artikel erst heute.
Der vollständige Briefwechsel aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwischen unserem Autor und seinem Vater ist nachzulesen in dem Buch »Im Wirrwarr der Meinungen«. (Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2013)