b Karl Marx MEW Bande 23 25Geburtstagsrede an die Gebildeten unter seinen Verächtern

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die bisherigen Philosophen hätten die Welt lediglich unterschiedlich interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern.

So die Einschätzung von Karl Marx, die als 11. These über den Philosophen Ludwig Feuerbach berühmt wurde. Die Thesen stammen aus dem Frühjahr 1845, als Marx in Brüssel lebte, nachdem er aus Frankreich wegen des ersten und einzigen Bands seiner kritischen „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ auf Initiative Preußens ausgewiesen worden war. Veröffentlicht wurden sie erst fünf Jahre nach seinem Tod durch Friedrich Engels. Der fügte sie seiner eigenen Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ an, die 1888 erschien.

Sowohl in diesen Thesen als auch in Engels geistesgeschichtlicher Abhandlung wird deutlich: Der erst neunzehnjährige Karl Marx befindet sich seit 1837 mitten in der großen geistigen Auseinandersetzung seiner Zeit. Die ist vor allem geprägt durch drei bedeutende Denker und deren Veröffentlichungen: Durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel und seine Schriften „Phänomenologie des Geistes“ (1806) und die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820) sowie durch David Friedrich Strauß und seine Religionskritik „Das Leben Jesu“ (1836). Im Jahr 1841 wird Ludwig Feuerbach mit seiner Schrift „Das Wesen des Christentums“ dieser Entwicklung die vorläufige Krone aufsetzen.

Anfangs zeigt sich Marx von Hegels idealistischer Philosophie tief beeindruckt. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Eduard Gans, dem Dekan der juristischen Fakultät, wendet er sich dem Kreis der Junghegelianer zu. Diese vertreten Hegels Dialektik, lehnen jedoch dessen strukturellen Konservatismus ab. Auch Marx‘ Freunde Adolph Rutenberg, Karl Friedrich Köppen und Bruno Bauer aus dem Berliner „Doktoren-Club“ zählen sich zu den Junghegelianern.

Doch schon bald distanziert Marx sich in barscher Weise von Hegel. Er kritisiert besonders dessen Geschichtsphilosophie, die das Fundament seines Staats- und Gesellschaftsverständnisses bildet. Geschichte ist für Hegel nicht eine zufällige Abfolge von Ereignissen, sondern trotz mancher gegenläufigen Entwicklungen ein sinnvolles Nacheinander, das sich nach einer inneren Dialektik entwickele. Dem Menschen komme dabei nicht die Rolle des handelnden Subjekts zu. Vielmehr herrsche in der Geschichte ein übergreifender Geist, den Hegel als „Weltgeist“ oder als „absoluten Geist“ oder auch als „Gott“ bezeichnet. Diese göttliche Idee, die sämtlichen natürlichen Vorgängen innewohne, verwirkliche im Lauf der Geschichte ihr Selbstbewusstsein; sie fände in den einzelnen Schritten des geschichtlichen Prozesses zu sich selber und präge den Menschen.

Hegel ist der Auffassung, dass in seiner Gegenwart, die sich zu Recht als Höhepunkt der klassischen Philosophie verstehe, der absolute Geist nach seinen diversen Irrwegen durch die Geschichte endlich sein Ziel, nämlich das vollendete Selbstbewusstsein, erreicht habe. Und so schreibt er:

„Bis hierher ist nun der Weltgeist gekommen. Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren; nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten. Diese konkrete Idee ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2 500 Jahre, seiner ernsthaften Arbeit, sich zu erkennen.“ Und in der Vorrede zur „Philosophie des Rechts“ bringt er seine Erkenntnis auf den Punkt: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“
Vernunft und Wirklichkeit würden endlich miteinander übereinstimmen; sie seien wahrhaft versöhnt. Der absolute Geist habe sich selber als alle Wirklichkeit begriffen und habe alle Wirklichkeit als seine eigene Offenbarung verstanden.

Exakt an diesen axiomatischen Thesen setzt Marx‘ Protest ein. Hegels Ansicht, dass alle Wirklichkeit von einem absoluten Geiste her verstanden werden müsse, ist für ihn ein ungerechtfertigter Mystizismus. Denn dabei würde von einem Standort jenseits der faktischen Wirklichkeit gedacht. Deswegen fordert Marx, die Philosophie müsse wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden, die Sicht auf die Wirklichkeit könne nur von eben dieser Wirklichkeit her erfolgen. Nicht von einer göttlichen Wirklichkeit aus dürfe die hiesige Wirklichkeit gedeutet werden; der Ausgangspunkt alles Denkens müsse vielmehr die konkrete Wirklichkeit sein. Und diese Wirklichkeit sei die Wirklichkeit des Menschen.
Dieser Gedanke verleiht der Philosophie von Marx ihre nicht-theistische Prägung. Folglich formulierte er: „Es ist die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren [...] Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik“« („Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, 1844)

Bei Hegel spiegele sich nach Marx‘ Auffassung alles im Bereich des bloßen Denkens ab; auch die Wirklichkeit, von der er rede, sei lediglich eine gedachte Wirklichkeit. Es komme aber auf die konkrete Wirklichkeit an und diese sei die Wirklichkeit des Menschen.

Die Philosophie, wie sie Marx in Übereinstimmung mit Feuerbach versteht, müsse zwangsläufig eine Philosophie der menschlichen Existenz sein. Deswegen schreibt er in seiner Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“: „Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst.“ Darum nennt er seine Philosophie den „realen Humanismus“. Das erste und ursprünglichste Wirkliche für den Menschen sei der Mensch. Von diesem her habe daher auch das jegliches Denken zu beginnen.

Was aber ist der Mensch? Marx leitet dessen Wesen im Unterschied zu Hegel nicht ausschließlich von der Fähigkeit des Erkennenkönnens ab. Ihm geht es um die menschliche Praxis, um das konkrete Handeln. In der Praxis müsse der Mensch die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.

Zum Wesen der Welt des Menschen und seiner Praxis gehöre, dass beide sich im Miteinander vollzögen. Während Feuerbach den Menschen als isoliertes Individuum begriff, betont Marx mit aller Eindeutigkeit: Der Mensch lebe von Anbeginn in einer Gesellschaft, die ihn trage. Und so heißt es (ebenfalls in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie): „Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen .... Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.“

Diese gesellschaftliche Natur bildet für Marx den Ausgangspunkt für alles weitere Nachdenken. Seine Auffassung findet sich in einem der häufig zitierten Sätze wieder: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ („Kritik der politischen Ökonomie“, 1859).

Das Bewusstsein des Menschen entstünde und entwickele sich durch die gemeinsame Arbeit. Da dem Menschen nichts von dem, was er für sein Leben benötige, zuflöge, müsse er sich die Güter der Natur aneignen und mit ihnen wirtschaften im Sinne von haushalten. Die ökonomischen Verhältnisse und insbesondere die ihnen zugrundeliegenden Produktivkräfte (Rohstoffe, Arbeitskraft, Werkzeuge und Maschinen, aber auch Forschung) seien die Basis seines Daseins. Nur in dem Maße, in dem diese ökonomischen Verhältnisse sich wandelten, entwickelten sich auch die Inhalte des Bewusstseins, die den »ideologischen Überbau« darstellten. Darunter versteht Marx den Staat, dessen Gesetze, die Reflektion des Menschen über sich selbst, Ideen, Moral, Kunst und Religion. In der materiellen und faktisch wirtschaftlichen Basis fänden sich jene Gesetze der geschichtlichen Entwicklung wieder, die Hegel dem Weltgeist zugesprochen habe. Auch die ökonomischen Verhältnisse entfalteten sich dialektisch.

Marx‘ Freund und Mitstreiter Friedrich Engels hat das allmähliche Entstehen von Einzelinteressen aus dem zunächst gemeinsamen, gesellschaftlichen, Eigentum in seiner Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ 1884, ein Jahr nach Marx‘ Tod, dargestellt. Diese Studie basierte auf Marx‘ umfangreichen Notizen über die Forschungen des Anthropologen und Evolutionswissenschaftlers Lewis H. Morgan. Diesem zufolge durchliefen sämtliche Kulturen drei Entwicklungsstufen: Die erste sei ein „wilder“ Urkommunismus, die zweite die Barbarei, erst in der dritten würde das Stadium der Zivilisation erreicht. Marx knüpft hier an und schreibt diese Entwicklung stringent fort. Letztere habe sich in der Bildung von Interessensgruppen, die er Klassen nennt, fortgesetzt. Darum ist für ihn die menschliche Geschichte ab einem definierten Stadium von Klassenkämpfen bestimmt. Hierbei sei der Antagonismus zweier (schichtenübergreifender) Klassen entscheidend. Nämlich dem zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel und denen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssten.

Diese Sicht auf Welt und Mensch verleiht Marx‘ Philosophie und Ökonomie ihren spezifischen Charakter. Beide Denkstränge sind nicht mehr Interpretation der vorgefundenen Wirklichkeit, sondern verstehen sich als Anleitung, diese Wirklichkeit zu verändern. Marx konstatiert, dass das wahre Wesen des Menschen, seine Freiheit und Unabhängigkeit, „die freie bewusste Tätigkeit“, in einer Klassengesellschaft nicht zur Geltung kommen könnten. Überall sei der Mensch von sich selber weggekommen; überall habe er seine echten menschlichen Daseinsmöglichkeiten verloren. Und er bezeichnet das als die »Selbstentfremdung« des Menschen. Sie bedeute eine durchgängige Entwertung der Welt des Menschen.

Diese Entfremdung sei ein Resultat der ökonomischen Verhältnisse. Sie hätten ihre Wurzeln in einer Entfremdung des Arbeitenden von dem Produkt seiner Arbeit. Es sei zu einer bloßen Ware geworden, zu einer dem Arbeitenden fremden Sache, die ihn, weil er sie kaufen müsse, um existieren zu können, in Abhängigkeit versetze. Marx formuliert das so: „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“ Entsprechend würde auch die Arbeit zu einer „entfremdeten Arbeit“. Sie sei keine Äußerung des Tätigkeits- und Schöpfungsdranges des Einzelnen, sondern das ihm durch die Verhältnisse aufgezwungene Mittel seiner Selbsterhaltung; sie würde im Sinn des Worts zur „Zwangsarbeit“. Diese Entwicklung erreiche ihren Höhepunkt im Kapitalismus, in dem das Kapital die Funktion der vom Menschen losgelösten Macht übernähme.

Die Entfremdung vom Produkt der Arbeit führe auch zu einer „Entfremdung des Menschen von dem Menschen“. Die zwischenmenschlichen Beziehungen verlören zunehmend ihre Unmittelbarkeit. Sie würden durch die Ware und durch das Geld definiert. Schlussendlich nähmen die Arbeitnehmer (unabhängig von der individuellen Stufe, die sie in der Hierarchie einnähmen) selbst einen Warencharakter an. Sowohl die Inhalte der Arbeit als auch die Verwendung der Arbeitskräfte würden fremdbestimmt, nämlich durch die Eigentümer an den Produktionsmitteln. Die wirtschaftlich abhängige, eigentumslose und deswegen einflusslose Klasse, das Proletariat, bilde „den sich abhanden gekommenen Menschen“; sein Dasein sei „der völlige Verlust des Menschen“; sein Wesen sei ein „entmenschtes Wesen“.

Von einem Hegelschen Weltgeist sei keine Hilfe zur Befreiung zu erwarten. Doch das Proletariat würde sich seiner Entfremdung bewusst werden, weil sich die Wirklichkeit tatsächlich als ein dialektischer Prozess vollzöge und die Widersprüche immer sichtbarer mache. Eine Gesellschaft, in der die Minderheit der Eigentümer an den Produktionsmitteln über die zu produzierenden Waren, den Verbrauch an Natur, die unvermeidbaren Verteilungskonflikte inklusive internationaler Auseinandersetzungen, die Definition von Gerechtigkeit, die politische Macht und somit über die ethischen Grundsätze des Menschseins und letztlich über das Wesen des Menschen entschieden, würde zwangsläufig auf einen Punkt zusteuern, an dem alles, aber auch alles, infrage gestellt würde. Die Antworten auf diese Fragen, die von der Entwicklung des Bewusstsein aller, die an diesen gesellschaftlichen Prozessen beteiligt seien, abhinge, wären eine neue Gesellschaft. In dieser könnte der Mensch wieder zum Menschen werden, dort würde „das wahre Reich der Freiheit“ anbrechen. Der Kapitalismus würde mit historischer Notwendigkeit zu seinem eigenen Totengräber, weil er die Revolte der Wirklichkeit aus systemimmanenten Gründen immer wieder neu anzettelte, bis diese den Sieg davon trüge.


Foto:
Montage: Marx-Fotografie von 1880 und den Bänden 23 - 25 aus „Marx-EngelsWerke“, die das „Kapital“ enthalten
© Medien-Redaktionsgemeinschaft

Info:
Dieser Beitrag ist einem Vortrag des Autors entnommen, den dieser bei der 72. Themenwoche des Frankfurter Literaturvereins PRO LESEN e.V. am 17.5.18 halten wird, die sich unter dem Motto „Die Revolution der Wirklichkeit“ in einer Ausstellung, Vorträgen und Lesungen mit dem Werk von Karl Marx aus Anlass seines 200. Geburtstags am 5.5.2018 beschäftigt.