Nach den Auseinandersetzungen zwischen Israeli und Palästinensern im Gazastreifen fallen die internationalen Reaktionen unterschiedlich aus – Kritik kommt auch seitens prominenter Israel-Freunde auf
Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Nach den letzten, teils blutigen, hasserfüllten Tagen und Wochen zwischen Israel und den Palästinensern des Gazastreifens stellt sich dem aussenstehenden Beobachter die Gretchenfrage. Doch gleich zu Beginn müssen wir eine der berühmt-berüchtigten Klammerbemerkungen anbringen, die das beinhaltet, was einerseits vielleicht wichtiger ist als alles, was Ihr Korrespondent ausserhalb der Klammern schreibt. Andererseits handelt es sich möglicherweise um Überlegungen ausserhalb eines jeden konsensgebundenen Gedankenganges. Überlegungen, die vielleicht so kühn sind, dass dem Schreiberling der Mut oder die Zivilcourage fehlen, sie ohne den schützenden Klammerzaun zu verfassen, der den Autor letzten Endes von jeder direkten Verantwortung für das Niedergeschriebene befreit. Verzichten wir demnach für ein Mal auf die Klammern, die effektiv nicht viel anderes sind als eine verschämt-feige Tarnkappe.
Kehren wir also zurück zum eingangs begonnenen Gedankengang. Den aussenstehenden Beobachter gibt es nämlich gar nicht. Bestimmt nicht, wenn es sich um den Nahen Osten und die dort lebenden Menschen dreht. Dort ist der «Beobachter» Partei, ob er es will oder nicht. Grenzen, Trennzäune, rote, grüne oder violette Linien – sie alle sind nicht viel mehr als Hilfselemente in der von Politikern, Armeen, internationalen Organisationen und/oder mutatis mutandis von Terrorverbänden errichteten Konstruktionen. Diese dienen letzten Endes hauptsächlich der Umsetzung eigener, oft eigensinniger Zielsetzungen in die Tat. Zielsetzungen, die oft mit den übergeordneten regionalen oder gar globalen Zielen wenig bis gar nichts gemeinsam haben, oder diesen im schlechten Fall gar diametral entgegengesetzt sind.
Eingangs sprachen wir von der Gretchenfrage, die es im Zusammenhang mit den unvermindert weitertobenden israelisch-palästinensischen Divergenzen zu stellen gelte. Zwar gibt es auf beiden Seiten des politisch-ideologischen Grabens nicht wenige Leute, die immer lauter vernehmbar zu ihren sinistern Ansichten stehen: Dem eigenen Wohl diene es am besten, den Konflikt ständig am Köcheln zu halten. Dieser Zustand, so argumentieren sie, gestatte den Entscheidungsträgern beider Seiten, bei der Verwirklichung ihrer eigenen Prioritäten demokratische oder humanitäre Einschränkungen ausser Acht zu lassen. Und zwar nicht verschämt, hinter vorgehaltenen Händen, und dabei leere Entschuldigungen murmelnd. Nein, mit voller Lautstärke und unter selbstgerechtem Einsatz der eisernen Faust. Ganz getreu dem Grundsatz: nach mir die Sintflut.
Die Kehrseite der Medaille
Thomas Friedman, der 64-jährige vielgereiste und welterfahrene Kolumnist der «New York Times» (NYT), schüttete diese Woche gegenüber CNN wieder einmal sein Herz aus, was die Vorgänge in und um Israel betrifft. Aus seinen Worten spricht der gleiche nicht zu bremsende Frust, der in zunehmendem Masse viele seiner liberalen jüdischen Gesinnungsgenossen seit Langem schon erfasst hat. Dabei handelt es sich beim Grossteil der Frustrierten, wie auch bei Friedman selber, um ebenso überzeugte wie zusehends enttäuschte Israelfreunde. Nur eben lassen sie sich nicht in die Schablonen pressen, die heute die von Leuten wie Binyamin Netanyahu, Miri Regev, Ayelet Shaked oder Avigdor Lieberman angeführte israelische Regierungsequipe am liebsten dem ganzen jüdischen Volk weltweit verpassen würde.
«Israel hat viel Grosses vollbracht», gibt Friedman freimütig und nicht ohne Stolz zu. «Seine Erfolge in Bereichen wie Technologie, Medizin oder Forschung lassen sich weltweit blicken und bringen Israel aus allen Ecken und Enden des Globus verdientes Lob und ebensolchen Respekt ein.» Israel mache heute aber auch viel Schlechtes. Damit kommt der Mann, der selbst einige Jahre als Korrespondent der NYT aus Israel berichtet hat, zur aktuellen Kehrseite der Medaille. Für Friedman stehen dabei Dinge wie die anhaltende und expandierende Besetzung palästinensischer Gebiete zuoberst auf der «schwarzen Liste», gepaart mit der teilweise unmenschlichen, weil diskriminierenden Behandlung von Palästinensern, aber auch Israel-Arabern.
Dem NYT-Kolumnisten passt es auch nicht in den Kram, dass in Israel rechtsnationale und ultraorthodoxe Kreise sich so exklusiv aufführen können, als ob ausser ihnen niemand mehr aus der jüdischen Szene etwas zu sagen, geschweige denn zu bestimmen hätte. Erschwerend für Israels Position gegenüber dem Weltjudentum kommt für Friedman hinzu, dass ein Mann wie Premier Netanyahu sich aus Koalitionsgründen die Stimmen der Nationalisten und Rechtsextremisten zu Nutze macht, wobei er, wahrscheinlich bewusst und nicht zufällig, übersieht, dass sich dadurch der Graben zwischen den Juden Israels und den jüdischen Mainstream-Amerikanern laufend weiter vertieft.
«Netanyahu kann es sich leisten, vor dem US-Kongress zu reden und dabei, was zu Zeiten Obamas bekanntlich geschehen ist, die regierende Administration zu desavouieren», gibt Thomas Friedman zu. Etwas überspitzt stellt er dann die Frage, wie der Premierminister es anstellen müsste, heute ungefährdet an gewissen amerikanischen Universitäten zu reden. «Das geht nur, wenn er gleichzeitig zu seiner Sicherheit ein starkes Aufgebot der Nationalgarde bestellt», meint Friedman zynisch, leider wahrscheinlich, aber nicht ganz unrealistisch. Der schleichende Verlust der Unterstützung der «goldenen Mitte» der US-Juden sei, so Friedman, für Israel eine Entwicklung, die sich kaum noch abwenden lasse. Deren Auswirkungen auf die verschiedensten Bereiche des israelischen Lebens, aber auch auf den Charakter der Beziehungen Israels zur jüdischen Diaspora könnten derart einschneidend sein, dass sie sich heute noch gar nicht abschätzen lassen.
«Konflikt der Zivilisationen»
Wie weiter? In diesen beiden Worten ist die eigentliche Gretchenfrage hinsichtlich einer lebenswerten Zukunft des Staates Israel in all seinen Facetten enthalten. Mit einer eindeutigen, umfassenden Antwort können wir hier nicht aufwarten. Eine solche Antwort variiert grundlegend je nach politischer, religiöser und ideologischer Einstellung des Fragestellers. Der Katalog der Prioritäten ist dabei so weit gefächert, dass ein kleinster gemeinsamer Nenner sich ohne namhafte Kompromisse nicht finden lässt. Womit wir schon bei dem Reizwort angelangt wären, das über Scheitern oder Erfolg bei der Suche nach einer Antwort entscheidet, mit der das jüdische Volk mehrheitlich noch leben könnte.
Als der soeben verstorbene Historiker Bernard Lewis sein berühmt gewordenes Schlagwort vom «Konflikt der Zivilisationen» geschaffen hatte, dachte er in erster Linie zwar an den Konflikt zwischen Islam und dem Westen (vgl. S.9). Mit einer gewissen interpreta-torischen Grosszügigkeit lässt sich der Begriff aber auch auf die Situation innerhalb des jüdischen Volkes anwenden. Ähnlich dem von Lewis geschaffenen Modell sind die innerjüdischen Kluften inzwischen derart breit und tief geworden, dass das Eingehen von Kompromissen immer kostspieliger für die beteiligten Gruppen zu werden droht. So kostspielig, dass sich manche Gruppe vielleicht schon nach der Zweckmässigkeit einer aktiven Beteiligung an der Suche nach einem Modus vivendi zu fragen begonnen hat. Ob die Alternative – die volle Abnabelung der Gruppen voneinander – das Ei des Kolumbus wäre, wagen wir zu bezweifeln.
Wie weiter also? Es ist alles andere als tröstlich, dass an dieser Stelle die vor vielen Jahren schon von Habib Bourguiba, dem ehemaligen tunesischen Präsidenten, aufgestellte Weisheit wieder an die Oberfläche geschwemmt wird: Wer Israels Existenz gefährden will, der schliesse Frieden mit ihm. Sobald nämlich die externe Gefahr für den jüdischen Staat beseitigt sei, würden seine internen Konflikte ihm von innen her den Garaus bereiten.
So weiter? Wir wissen es nicht, doch eines erweist sich als immer unbestrittener: So wie heute wird es, in historischen Dimensionen ausgedrückt, trotz aller wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Erfolge mit Israel letztlich nicht mehr weitergehen können. Das sieht ein Thomas Friedman schon richtig, auch wenn diese Erkenntnis Menschen mit dem nötigen intellektuellen Rüstzeug im Rucksack kaum wirklich tröstet, sondern eher entmutigt.
Foto:
Thomas Friedman, Kolumnist der «New York Times», äusserte seine Sorge um Israel gegenüber CNN © tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. Mai 2018