Bildschirmfoto 2018 06 03 um 08.25.35Im Gespräch mit der neuen Präsidentin der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich, Iris Ritzmann, und dem abtretenden Präsidenten, Alex Dreifuss

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - tachles: Iris Ritzmann, Sie sind die neu gewählte Präsidentin der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch (JLG) und lösen Alex Dreifuss ab. Sie traten als Quereinsteigerin ein ohne Vorstandserfahrung. Sind Sie die richtige Wahl?

Iris Ritzmann: Zuerst habe ich auf Anfrage der Wahlkommission abgelehnt. Ich empfand mich nicht als richtige Kandidatin.


Sie haben Ihre Meinung dann geändert.

Iris Ritzmann: Nach vertiefter Auseinandersetzung habe ich mich entschlossen, als Übergangslösung diese grosse Verantwortung zu übernehmen. Ich bin agnostisch aufgewachsen. Die liberale Geisteshaltung und die jüdische Kultur sind mir wichtig. Die JLG vereint dies seit Jahren mit gutem Ansatz, und ich möchte das gerne weiterentwickeln zusammen mit der Gemeindebasis und dem Vorstand.


Alex Dreifuss, Sie sind auch ein Quereinsteiger: ein Erfolgsmodell?

Alex Dreifuss: Aus der Not eine Tugend gemacht, würde ich sagen. Effektiv war ich nur kurz im Vorstand, als die Wahlkommission mich kontaktierte. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Nach acht Jahren intensiver Tätigkeit bin ich froh, dass wir Kontinuität schaffen konnten.


Die JLG hat unter Ihrer Vorgängerin Nicole Poëll entschieden, dass Präsident und Vorstand entschädigt werden. Damit sollte dem Nachwuchsproblem entgegengehalten werden. Ist das erfolgreich?

Alex Dreifuss: Ein solches Amt ist fast nicht vereinbar mit einem vollen Arbeitspensum im Beruf. Damals ist der Vorstand davon ausgegangen, dass ein Arbeitstag pro Woche nötig ist für eine seriöse Präsidialarbeit – auch wenn effektiv mehr gearbeitet wird. Ich hätte damals das Amt nicht antreten können, wenn ich nicht mein reguläres Arbeitspensum hätte reduzieren und durch die Entschädigung kompensieren können. Ich erinnere mich allerdings, dass bereits die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) eine Entschädigung für das Präsidium beschlossen hatte, das dann aber nicht bezogen wurde.

Iris Ritzmann: Die Entschädigung war für mich nicht der ausschlaggebende Anreiz – und doch hilft sie natürlich, sich voll auf die Aufgabe zu konzentrieren.


In den Einheitsgemeinden in Zürich und Basel sollen nun nicht jüdische Partner von Gemeindemitgliedern auf einem abgegrenzten Teil des jüdischen Friedhofs begraben werden können. Bei Ihnen gibt es das schon lange. Werden die Einheitsgemeinden immer liberaler?

Alex Dreifuss: Veränderung und Öffnung sind zentrale Merkmale des liberalen Judentums. Sie müssen allerdings von der Basis kommen. Wenn die Einheitsgemeinden uns folgen, dann ist das sicherlich positiv.


Die Übertrittspraxis in liberalen Gemeinden wird allerdings von den orthodox geführten Einheitsgemeinden nicht anerkannt, und das führt gesellschaftlich zu Problemen.

Alex Dreifuss: Das ist richtig. Unsere Übertritte werden von der europäischen Rabbinerkonferenz nicht akzeptiert. Viele Neumitglieder kommen mit einem gemischt-religiösen Hintergrund und wollen ein jüdisches Familienleben etablieren, gerade dann, wenn es um Kinder geht. Wir integrieren, aber wir exkludieren nicht. Nicht jüdische Partner können aktiv partizipieren, aber nicht Mitglied werden.


Das führt dann auch dazu, dass Kinder der JLG nicht in die Jüdische Schule Noam gehen können. Wie wollen Sie dies ändern in einer Stadt, in der ihre Gemeinde und die ICZ ja öffentlich anerkannt sind?

Alex Dreifuss: Ich war immer ein Anhänger der Volksschule. Zugleich ist die Situation nicht gut. Unter dem verstorbenen Rabbiner Michael Goldberger konnten wir unsere Kinder in die Noam senden. Unter den folgenden Rabbinern war dies nicht mehr möglich.

Iris Ritzmann: Das Thema bleibt eine Herausforderung. Wir bieten zwar jüdischen Unterricht. Dies ist aber Ergänzung. Meine Kinder waren in öffentlichen Schulen. Einfach war das nicht immer, wenn es darum ging, auf Primarstufe eine jüdische Bildung zu ermöglichen. Zugleich bin ich auch grosse Anhängerin der Volksschule. In naher Zukunft wird wohl eine jüdische Schule für Kinder aus liberalen Familien leider noch kein Thema sein.


Gerade die finanziellen Herausforderungen aller Gemeinden legen doch nahe, dass traditionelle, orthodoxe oder liberale Gemeinden vermehrt zusammenarbeiten. Gibt es da Bestrebungen?

Alex Dreifuss: Im Alltag gibt es zwar gute Beziehungen vor allem zur ICZ, von der wir auch Sicherheitsdienstleistungen gegen Entgelt beziehen. Darüber hinaus gehen aber alle ihre eigenen Wege.

Iris Ritzmann: Natürlich möchte ich mich für Kooperationen einsetzen und Gespräche mit anderen Gemeinden führen. Von Alex Dreifuss übernehme ich zugleich eine sehr gut geführte Gemeinde und weiss, dass meine Vorgängerinnen und Vorgänger auch in dieser Hinsicht schon sehr aktiv waren. Ein erster Schritt ist vielleicht meine Mitarbeit im Stiftungsrat im Altersheim Sikna. Dort nehmen nun alle Präsidenten jüdischer Gemeinden auf dem Platz Zürich Einsitz.


Sie übernehmen, wie Sie sagen, eine gesunde, gut geführte Gemeinde. Was für Ziele haben Sie sich denn für ihr Präsidium gesetzt?

Iritz Ritzmann: Effektiv geht es mir zuerst um den breiten Austausch mit den Mitgliedern. Ich möchte die Anliegen verstehen, aufnehmen und dann umzusetzen versuchen. Das Präsidium ist für mich eine Art Mediation und keine Monarchie. Nach aussen möchte ich sicher das liberale Judentum noch vermehrter einbringen. Zentral ist die Frage, wie der Gottesdienst sich innerhalb der Gemeinde entwickelt, und auch da möchte ich die Anliegen aufnehmen.


Was heisst das für Ihr Engagement im Dachverband der liberalen Gemeinden?

Iris Ritzmann: Die liberalen Gemeinden in der Schweiz wachsen und haben zugleich ähnliche Herausforderungen wie alle anderen. Die Finanzen für steigende Sicherheitsanforderungen sind zu bewältigen. Das wird auch in der Plattform der Liberalen jüdischen Gemeinden Priorität haben. Sicherlich wird ein zentrales Thema das Vaterjudentum sein und der Umgang innerhalb unserer Gemeinden mit Kindern, die ihr Judentum vom Vater erhalten haben. Zugleich bleibt für mich die Einheit wichtig, denn ausserhalb unserer jüdischen Gemeinschaft werden wir Juden als Gesamtheit wahrgenommen.

Alex Dreifuss: In Genf wächst die liberale Gemeinde, in Basel bleiben es wenig Mitglieder. Wir sind in einer Zwischengrösse. Die Profilierung des liberalen jüdischen Weges ist sicherlich wichtig, damit wir wachsen können. Denn die Gründergeneration der JLG tritt langsam ab, und wir müssen uns mit inhaltlichen Fragen der Zukunft weiter auseinandersetzen. Daher bin ich auch froh, dass Iris Ritzmann sich für das Präsidium entschieden hat und diese Diskussion mit den Mitgliedern führen möchte.


Unter Ihrer Präsidentschaft haben Sie in den letzten Monaten eine Mitgliederbefragung initiiert und die Resultate an der vergangenen GV vorgelegt. Sozusagen als Abschiedsgeschenk?

Alex Dreifuss: Initiiert und durchgeführt wurde die Mitgliederbefragung durch Marlise Dreifuss. Das war ein guter Prozess. Für die Mitglieder ist zentral, welche Richtung die Gemeinde in Zukunft einschlägt. Als Abschiedsgeschenk war das nicht gedacht und der Zeitpunkt zufällig. Ich bin aber froh, dass dies noch in meiner Amtszeit durchgeführt werden konnte.

Iris Ritzmann: Für mich ist das eine gute Grundlage, und ich fand die Antworten und Vorschläge spannend. Das ist eine gute Basis für das Präsidium.


Die JLG feiert dieses Jahr ihr 40-Jahr-Jubiläum. Was ist geplant?

Iris Ritzmann: Wir werden das Jubiläum Ende Oktober innerhalb und für die Gemeinde begehen. Ich freue mich auf jeden Fall schon darauf.


Gibt es zum Geburtstag auch einen neuen Standort?

Iris Ritzmann: So weit sind wir noch nicht. Ja, wir schauen uns nach neuen Standorten um. Bisher haben wir noch nichts Geeignetes gefunden. Richtig ist aber, dass wir mit der Anzahl Veranstaltungen, Gottesdiensten und Unterrichten hier an unsere Grenzen stossen.


Foto:
Iris Ritzmann und Alex Dreifuss vor der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. Juni 2018
www.jlg.ch