Bildschirmfoto 2018 06 09 um 00.56.59Schweiz: Interview mit Sibylle Berg zum Referendum gegen das geplante Gesetz

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Die Autorin Sibylle Berg hat für das Referendum gegen das geplante Gesetz für die Überwachung von Sozialversicherten bereits 55000 Unterschriften gesammelt.

tachles: Was konkret ist für Sie Zivilcourage ?

Sibylle Berg: Sich dann zu engagieren, wenn man ein Unwohlsein verspürt, und dieses dann am besten noch durch Fakten erklären kann. Zivilcourage oder einfach Mitgefühl geht vom körperlichen Einsatz aus, wenn man einem Gefallenen auf die Beine hilft, sich zwischen einen Angreifer und einen Angegriffenen stellt, um Verantwortung im Gesellschaftspolitischen zu übernehmen. Zivilcourage ist der Moment, in dem man selber handelt und nicht darauf wartet, dass es jemand anderes tut oder dass der Anfall wieder vorübergeht.


Sie haben mit Anwalt Philip Stolkin und Politiker Dimitry Rougy das Referendum gegen Oberservierung von Versicherten ohne richterliche Genehmigung durch Privatdetektive lanciert. Was ist daran falsch?

Naja, was kann falsch daran sein, wenn Privatunternehmen die Aufgaben der Staatsgewalt übernehmen? Eigentlich alles, oder? Wenn man davon ausgeht, dass in diesem konkreten Fall fast alle Bürger und Bürgerinnen Grund dazu haben, den Versicherungen nicht 100-prozentig zu vertrauen. Denn ihr Geschäftsmodell ist es nicht, zu zahlen, sondern zu sparen.


Im August 2017 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Betrugsfälle nicht durch Privatdetektive verfolgt werden dürfen. Es fehlen die rechtlichen Grundlagen. Das Schweizer Parlament hat daraufhin die Grundlagen geschaffen. Sie haben das Referendum ergriffen, obwohl die Befürworter anführen, dass auf diese Weise viele Missbrauchsfälle aufgedeckt würden. Wie wollen Sie Missbrauch bekämpfen?

Zu Recht hat der europäische Gerichtshof dieses hochgradig inhumane Vorgehen verboten. Darum wollen gewisse Kräfte in der Schweiz ja gerne auch den Einfluss dieses Kontrollorgans mit der kommenden Abstimmung verhindern. Die Lobbyisten der Versicherungen haben dann in einem absurden Tempo in der Schweiz eine Rechtsgrundlage durchgeboxt. Jetzt habe ich mich verplaudert, zurück zu Ihrer Frage: Missbrauch soll, so wie alle Straftaten in einer gut funktionierenden Gesellschaft wie der Schweiz, bekämpft werden: mit rechtsstaatlichen Mitteln.


Sie sind Schweizerin. Geboren und aufgewachsen in Ostdeutschland. Sie haben als Erste gegen Sozialdetektive aufbegehrt. Fehlt gebürtigen Schweizerinnen und Schweizern das Sensorium für die da lauernde Gefahr?

Viele Mitstreiter und Mitstreiterinnen, die wir jetzt haben, sehen die Gefahr genauso wie wir, es brauchte einfach, wie oben beschrieben, jemanden, der den ersten Schritt macht. Vielleicht bin ich dadurch, dass ich mich auch mit Netzaktivisten zusammen für Kryptoabwehr engagiere (https://pep.coop/home/) sensibilisiert auf das Bestreben aller Staaten, seine Bürgerinnen und Bürger möglichst flächendeckend zu überwachen. Dem öffnet das neue Sozial­spiongesetz natürlich die Tür. Jeder, der im Land Sozialleistungen empfängt, also fast alle, kann bei einem Verdacht (den muss nur die Versicherung hegen) in einem penetranten Ausmass überwacht werden. Von Detektiven, die irgendeinen Kurs belegt haben. Sie können in die Wohnung filmen, fotografieren, auf den Baum gegenüber Ihres Schlafzimmerfensters klettern, um sie zu belauschen. Was das Eindringen in ihr Netzwerk betrifft, ist unklar, Sie können mit einem Tracker ver­sehen werden und vorerst noch mit richterlicher Genehmigung mit Drohnen verfolgt werden. Das ist nicht nur unverhältnismässig, sondern ein Horror für betroffene «Verdächtige».


Sie haben bereits 55000 Unterschriften gesammelt, das geplante Gesetz wird nun vors Volk kommen. Was erwartet Sie nun?

Es gibt jetzt einen David-gegen-Goliath-Abstimmungskampf von einer Volksbewegung, die wir unterdessen sind, die den Milliarden der Versicherungen und der befürwortenden Parteien gegenübersteht. Zu erwarten sind populistische Kampagnen, die die Solidarität im Land weiter in Frage stellen: wir gegen die anderen.


Ihre Gegner bekämpfen nicht zuerst Ihre Argumente, sondern Sie als deutsche Frau. Brauchen die Nachhilfe für die aufgeklärte Debatte?

Na, da kann ich nur froh sein, dass Sie nicht noch mehr Details zu meiner Herkunft anführen! Dieses befeuern alter Vorurteile ist genau das, was unter dem Einfluss von Populisten immer passiert. «Wir gegen die anderen» – statt miteinander. Vermutlich hilft es nicht, ausgerechnet Ostdeutsche zu sein, selbst wenn ich jetzt über 20 Jahre in der Schweiz lebe. Es ist ein etwas peinlicher Trick, rassistisch zu werden, wenn einem Argumente ausgehen, aber wie wir alle wissen, funktionierte er bereits in früheren Zeiten sehr gut.


In den letzten Wochen haben Sie auch immer wieder engagiert gegen Überwachung im Netz geschrieben und in Deutschland neue Initiativen ergriffen. Es hat lange gedauert, bis Intellektuelle sich wieder aktiv einbringen. Waren die Zeiten zu komfortabel in den letzten Jahren?

In der Schweiz ist es nötig, sich einer besonderen Anstrengung auszusetzen, weil das Land so klein ist, dass man seine Gegner auf der Strasse trifft. Das braucht eine Extra-Umdrehung Engagement. Und natürlich ist das Unrecht hier ordentlich versteckt. Es herrschte lange noch eine weitgehende Gerechtigkeit. Und vor dem Erstarken der Rechtsnationalen auch ein höflicher Umgangston. Dass das immer weiter ausgehöhlt werden soll, dass die Bevölkerung auch hier gespalten und gegeneinander aufgehetzt wird, damit sie die neoliberalen Umbaumassnahmen im Hintergrund nicht bemerkt, nimmt erst in den letzten Jahren richtig Fahrt auf. Es ist wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger verstehen: Wenn es erst gegen Ausländer, Kosovaren geht, kann es im nächsten Schritt gegen Juden, Rothaarige, Frauen, Arme oder Kranke gehen. Denn Populismus braucht immer neue Feindbilder, das ist vielen vielleicht nicht klar.


Die Fiktion der Zukunft basiert auch in Ihren Romanen oft auf der Erfahrung der Vergangenheit. Wo sehen Sie das Netz und die Gesellschaft in zehn Jahren?

Ich denke, dass viele Länder gerade sehr interessiert nach China schauen, wo mit der Totalüberwachung und den Bürgerpunkten ein perfektes System ausprobiert wird, um den Menschen zu kontrollieren, jeden Widerstand zu unterbinden. Ich vermute, dorthin wird die Reise gehen.


Diskriminierung, Frauenfeindlichkeit, Rassismus oder auch Antisemitismus manifestieren sich im Netz teils virulent. Wie frei soll die Gesellschaft sein können, und wie frei wollen Sie die Meinungsäusserung halten?

Das Gesetz gibt dafür klare Regeln vor. Hier muss seitens der Behörden neu gedacht und erkannt werden, dass es nicht um «das Netz» und «die reale Welt» geht. Was in der 1.0-Welt gilt, muss auch in der virtuellen Erweiterung angewendet werden.


Populistische Parteien gewinnen in Europa vermehrt Wahlen. Alles demokratisch legitimiert. Gibt es ein Systemproblem? Wie können Minderheiten vor diesen Mehrheiten geschützt bleiben?

Wenn ich das wüsste, würde ich die Welt regieren. Der Aufmarsch der Rechten ist vollkommen logisch – sie preschen in die Krise, die rechte Parteien mit befeuert haben – und bieten Lösungen für selbstverursachte Probleme an. Dabei bedienen sie die vorhin erwähnten, bereits im «Dritten Reich» verwendeten Stereotype der Feindbilder und Abwertung. Sie sprechen die Fähigkeit der Menschen zu Hass an, das ist immer einfacher, als komplizierte Toleranz und humanistische Werte zu vermitteln. Und sie holen einen Grossteil der stark verunsicherten Männer ab und versprechen eine Heilung des kranken Männerkörpers.

Dem kann man nur mit einer radikalen Neustrukturierung demokratischer, humanistischer Gegenpositionen begegnen. Wenn es gelingt, den Menschen zu zeigen, dass man nicht nur die Reichen unterstützt, dass man Ideen für die bevorstehende Umgestaltung der Welt durch die Digitalisierung hat, dass Hass richtig schlechte Laune macht, dass man versucht, das Ökosystem zu retten, dann hat man konkrete Angebote da, wo die Populisten nur Hass anbieten und Vorteile für sehr reiche Bürger. Konkret: Die Gegenpositionen müssten eigentlich zusammenhalten.


Mit Ihrem Mann leben Sie in der Zweitheimat Israel. Wie beurteilen Sie dort die gesellschaftspolitische Entwicklung?

Ich halte mich mit der Beurteilung der Politik in Ländern, in denen ich nur zu Gast bin, sehr zurück. Allgemein denke ich, dass die jetzige Regierung das Handbuch der Populisten gelesen und gut verstanden hat.


Ihre Werke sind in über 34 Sprachen übersetzt worden. Nun erscheint erstmals ein Roman auf Hebräisch. Was bedeutet das für Sie ?

Dass endlich Familie und Freunde wenigstens ein Buch von meinen vielen lesen können. Und dann nicht mehr mit mir reden. Eventuell.


Foto:
Sibylle Berg (l.) und Dimitri Rougy vom 
Referendumskomitee an der Auftaktveranstaltung zum Referendum gegen das Gesetz zur Überwachung von 
Versicherten der 
Sozialversicherungen auf dem...

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8. Juni 2018