Verantwortungsethik geht vor Gesinnungsethik
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gewaltverbrechen von Flüchtlingen spalten zunehmend die deutsche Gesellschaft. Und sie nutzen ausgerechnet der Vogelschiss-Partei, welche die millionenfachen Morde der NS-Diktatur marginalisiert.
Dennoch, es gibt nichts zu entschuldigen. Weder traumatische Kriegserlebnisse noch die Regeln religiös-patriarchalischer Gesellschaften in Syrien, im Irak, in Afghanistan oder Nordafrika rechtfertigen Schlägereien, Überfälle und Morde im Gastland Deutschland. Und ebenso wenig Geringschätzung der Frau, Homophobie und Antisemitismus. So ist es beispielsweise nicht hinzunehmen, wenn sich Männer in Kantinen oder an Tafeln für Bedürftige nicht von Frauen bedienen lassen wollen oder in aggressiver Weise auf Rind- bzw. Lammfleisch bestehen. Gastfreundschaft bedeutet teilen, und zwar teilen von dem, was vorhanden ist. Ein zivilisierter Gast akzeptiert das. Auch ein verweigerter Handschlag (Frau gegenüber einem Mann, Mann gegenüber einer Frau) verletzt hierzulande Konventionen der Höflichkeit und letztlich auch die Würde eines Menschen.
Denn der Geist der Bundesrepublik ist geprägt vom ersten Artikel unserer Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und in Artikel 2 heißt es:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Diese Grundrechte begrenzen die „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“, die in Artikel 4 garantiert sind, aber häufig irrtümlicherweise mit einer absoluten Religionsfreiheit gleichgesetzt werden. Letztere gibt es nämlich nicht.
Wer aus politischen Gründen oder wegen religiöser Verfolgung seine Heimat verlassen musste, wird die Dimensionen der westlichen Demokratie zumindest erahnt haben. Aus dieser Personengruppe, die das Asylrecht uneingeschränkt in Anspruch nehmen kann, sind mir keine nennenswerten Vergehen gegen die Rechtsordnung der Bundesrepublik bekannt.
Der großen Masse der Ungebildeten und schlecht Informierten, die Krieg und Elend entgehen wollten und sich auf das Abenteuer Europa einließen, wird Deutschland ein Buch mit sieben Siegeln gewesen und geblieben sein, die Kenntnis der Sprache eingeschlossen. Die Schlepperorganisationen, die sie ins Land schleusten, haben sie bewusst nicht über das aufgeklärt, was sie erwartet.
Es mag den Umständen geschuldet sein, dass im September 2015 angesichts der einströmenden Menschenmassen Grenzkontrollen nicht möglich waren. Doch in den zugewiesenen Quartieren sollte die Feststellung der Personalien durchführbar gewesen sein. Wer keine Ausweispapiere vorzeigen konnte (vielleicht, weil er diese vorher auf Rat der Schlepper weggeworfen hatte), hätte bis zur Klärung seiner Identität in Haft genommen werden können. Bei Polizeieinsätzen gegen gewalttätige Demonstranten ist das ein übliches Verfahren.
Vor dem Hintergrund der auch seinerzeit bekannten Gefahren durch den IS und dessen eingeschleuste Terroristen einschließlich der bereits länger aktiven heimischen Salafisten-Szene wäre es rechtmäßig gewesen, von Frauen bei der Einreise das Ablegen von Kopftuch und Schleier zu verlangen. Denn der öffentliche Raum, und Aufnahmestellen für Flüchtlinge zählen dazu, ist de jure ein säkulares Terrain und nicht mit der privaten Wohnung oder einem Gebetshaus zu verwechseln.
Es gehört zwangsläufig zum Schicksal von Einwanderern, dass sie sich in eine neue Heimat einfügen müssen, die von denen geformt ist, die bereits länger, teilweise seit vielen Generationen, dort leben – und die nicht grundsätzliche Germanen sind. Die Alteinwohner zeigen sich erfahrungsgemäß aufgeschlossen für andere Sitten und Gebräuchen, soweit diese nicht aus orthodoxen und weltfremden Ritualen herrühren.
Der reichen Bundesrepublik Deutschland ist es möglich und es ist ihr sogar zuzumuten, einen nennenswerten Teil der Verdammten dieser Erde aufzunehmen, also aktiv zu integrieren, sie zu Staatsbürgern zu formen. Schließlich gehen viele Kriege zumindest zum Teil auf das Konto der deutschen Schlüsselwirtschaft.
Dieser Erkenntnis gegenüber steht jedoch das Bewusstsein, dass es bei der Integration der Flüchtlinge vorrangig um die Sicherung der Rechtsordnung dieses Landes gehen muss. Je häufiger der Staat Ausnahmen bei der Durchsetzung dieses unveräußerlichen Guts zulässt, umso mehr liefert er die Verfassungsgrundsätze den Antidemokraten aus, aktuell vor allem der AfD.
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Gedenken an die ermordete Susanna
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