Am 4. Juni 2018 wurde die „Ikone der Sexualaufklärung“ 90 Jahre altElvira Grözinger
Berlin (Weltexpresso) - Mit ihren Fernsehsendungen und über 30 Büchern hat sich die als „Dr. Ruth“ weltberühmteste lebende amerikanische Sexualtherapeutin international einen überaus guten Ruf erarbeitet. Und das, trotz ihrer Stimme, die ein Journalist als eine „Mischung aus Henry Kissinger und Minnie Mouse“ beschrieb.
Stets humorvoll und niemals anzüglich oder schwulstig schreibt und spricht sie seit 1980 vor jungem wie altem Publikum mit nicht nachlassendem Enthusiasmus über Sexualstörungen, Stellungen und Techniken des Liebemachens, ganz im Sinne von „make love not war“, denn dies mache das Leben reicher und schöner. Sex sells, und so wurden manche ihrer Bücher verfilmt und über sie selbst sind unzählige Beiträge erschienen, zuletzt aus Anlass ihres 90. Geburtstages in den meisten Medien, auch bei uns.
Die amerikanische Staatsbürgerin besitzt seit 2014 auch wieder die deutsche Staatsbürgerschaft. Geboren am 4. Juni 1928 im Bayrischen Wiesenfeld/Karlstadt am Main als Ruth Karola Siegel, wuchs jedoch in Frankfurt am Main auf und betrachtet sich als ein „Frankforder Mädsche“. Bis heute ist ihr Deutsch stark hessisch gefärbt, wiewohl sie schon im Alter von zehn Jahren als Tochter aus orthodoxem jüdischem Hause 1939, nachdem ihr Vater nach der Pogromnacht verhaftet wurde, von ihrer Mutter und Großmutter mit einem Kindertransport aus Frankfurt am Main in die Schweiz geschickt wurde, wo die Kinder auf den Nachzug ihrer in Hitler-Deutschland gefährdeten Eltern warteten. In einem Kinderheim in Heiden warteten die Kinder, die bis 1941 noch Briefe von Zuhause erhielten, jedoch vergeblich.
Auch Karola, damals so genannt, sah ihre Eltern nie wieder, denn sie wurden wahrscheinlich in Auschwitz ermordet. Erst 1945 erfuhr sie von dem Schicksal der Juden in Europa. Eigentlich hätte sie nach Holland gehen sollen, wofür sie registriert war, aber durch eine glückliche Fügung kam sie in die neutrale Schweiz, während sie in dem später besetzten Holland vielleicht das Schicksal einer anderen berühmten Frankfurterin, Anne Frank, hätte teilen müssen. Die Waisenkinder im Kinderheim hielten zusammen wie Geschwister. Nach dem Krieg wanderte Ruth in das britische Mandatsgebiet Palästina aus, sie war 17, und trat der Haganah bei, der jüdischen Untergrundarmee, die für einen jüdischen Staat kämpfte. Angeblich wegen ihrer geringen Körpergröße von 1,40 cm als Scharfschützin ausgebildet, womit sie sich heute noch rühmt, kämpfte sie im Unabhängigkeitskrieg und wurde schwer verwundet, womit ihre Militärkarriere zu Ende ging.
Ruth Siegel studierte ab 1950 Psychologie an der Sorbonne und bekam dort auch Lehraufträge. 1956 emigrierte sie in die USA, heiratete 1961 Manfred Westheimer (der 1997 starb), mit dem sie zwei Kinder hat. Sie studierte an der New School Soziologie bis zum Master (1959) und an der Columbia University Pädagogik. In diesem Fach promovierte sie auch zum Ed.D. Ihre erste Arbeit nach dem Studium für „Geplante Elternschaft“ führte sie zum Studium der menschlichen Sexualität, was sie im Rahmen ihres Post-doc-Forschungsprojekts unter der Leitung von Helen Singer Kaplan an einem New Yorker Krankenhaus durchführte. Ihre Spezialisierung auf dem Gebiet der Sexualkunde erwarb sie außerdem, wie sie sagt, anhand der Pionierarbeiten des Ehepaars William Howell Masters (Gynäkologe) und Virginia Johnson (frühere Countrysängerin und betätigte sich an der Seite Von Masters als Sexualwissenschaftlerin). Das Paar zeichnete bis zu ihrer Scheidung die ersten Daten über das sexuelle Verhalten der Menschen, die Freiwillige in ihrem Laboratorium paarweise oder allein vorführten. Mit ihrem Material widerlegten sie zahlreiche falsche Vorstellungen über die Sexualität und setzten - etwa mit ihrem Vier-Stufen-Modell der sexuellen Reaktion - künftige Maßstäbe, von denen sich heute manche allerdings als irreführend erwiesen haben.
Dr. Ruth Westheimer unterrichtete mehrere Jahre an verschiedenen Colleges, an der Columbia University und an der West Point-Akademie, auch an den Universitäten Yale und Princeton. Bei uns war in den 1960er Jahren die „sexuelle Revolution“ ausgebrochen, zu der Journalist Oswalt Kolle beitrug, der als Laie Sexualaufklärung unters Volk brachte. Das Frankfurter Bahnhofsviertel mit seinen Peep-Show-Buden und Bordellen war legendär. Die Pubertierenden konnten und können noch heute auf ihre Fragen zumindest teilweise von „Dr. Sommer“ aus der nun on-line-Zeitschrift Bravo Antwort erhalten und in den späten 80ern die selbsternannte Sexualberaterin Erika Berger im RTL erleben. Mit den Sex Shops von Beate Uhse begann der Einzug der Erotik quasi in die Fußgängerzonen. Sie alle kamen und gingen, aber Dr. Ruth blieb und steht da wie ein Fels in der Brandung.
Ihr angeblich erster Geschlechtsverkehr mit 17 unter dem Sternenhimmel von Eretz Israel hätte Dr. Ruth, wie sie von ihren Fans genannt wird, die Tür zum Sujet geöffnet. Heute auf Youtube und überall nachzuhören, auch bei uns in den Talkshows, ob etwa bei Johannes B. Kerner, oder bei Markus Lanz zu Gast, hat sie 1980 mit ihrer ersten Radio-Sendung „Sexually Speaking“ in den USA als Erste über Sex öffentlich gesprochen und den Zuhörern Ratschläge erteilt. Sie, als Kind von ihrem Vater allwöchentlich in die Synagoge mitgenommen und in jüdischen Dingen unterrichtet, betont stets, dass sie über den Sex so frei und positiv sprechen kann, weil dieser, im Judentum, anders als in anderen Religionen, nicht als Sünde, sondern im Gegenteil, als göttliches Gebot für Ehepaare gilt. In der Tat wird Sex im Talmud und in der Kabbala ausführlich erörtert und geboten. Mit der ihr eigenen Selbstironie erzählte Ruth in einem Interview, dass sie zu ihren Veranstaltungen und Vorträgen ihren Mann nie einlud, denn, er soll mal, als er von einer Journalistin nach seinem Sexleben gefragt wurde, wie folgt geantwortet haben: Sie wissen, was man über die Schusterkinder sagt – sie haben keine Schuhe und müssen barfuß laufen...
Seit 1997 verwitwet und über die Jahrzehnte selbst nun älter geworden, erweiterte Dr. Ruth, als sie 80 wurde, ihr Beratungsspektrum altersgemäß auf das ältere Publikum, so in dem Buch Silver Sex, Wie Sie Ihre Liebe lustvoll genießen. Ihr neuestes Buch von 2018, da ist sie 90, heißt Stay or Go: Dr. Ruth's Rules for Real Relationships und gibt Anweisung für langanhaltende Paar-Beziehungen. Zwar berät Ruth Westheimer auch homosexuelle Paare, doch heterosexuell orientierte Menschen stehen, da sie auch die Mehrheit der Bevölkerung darstellen, im Mittelpunkt ihrer therapeutischen Arbeit - sie bezeichnet sich auch explizit als Erzieherin und Psycho- und Sexualtherapeutin. Sie wurde demgemäß 1994 mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für ihre Verdienste um die sexuelle Aufklärung ausgezeichnet.
Dr. Ruth war mir als Autorin lange bekannt, 1994 aber lud mein Mann sie zu seinem - als unseren Abschied von Frankfurt organisierten - Kongress über die „Jüdische Kultur in Frankfurt am Main“, wo sie im Plenarsaal des Römers den Eröffnungsvortrag hielt. Um überhaupt gesehen zu werden, musste eigens und eilends eine Bierkiste herbeigeschafft werden, auf die die kleine Person hinter dem Pult steigen musste. Sie ertrug auch dies mit Humor. Wir verbrachten mit ihr während ihres Aufenthaltes dort viele Stunden, unter anderem besuchten wir gemeinsam den alten jüdischen Friedhof in der Rat-Beil-Straße, wo ihre Verwandten begraben liegen. Dabei war damals auch unsere erwachsene Tochter, die sich auf dem weitläufigen Friedhof allein umsah. Als Ruth ihr Fehlen bemerkte, bekam sie einen Riesenschrecken und begann, sie zu suchen, denn, so erklärte sie mit Erleichterung nach baldigem Wiederauffinden, sie hatte Angst, der jungen Frau sei dort etwas zugestoßen.
Diese Begebenheit, an die sie uns auch noch Jahre später wiederholt bei erneuten Begegnung an anderen Orten, auch hier in Berlin, erinnerte, zeigt sie als eine nicht ganz angstfreie – wen wundert’s bei ihrer tragischen Lebensgeschichte – aber sehr warmherzige und empathische Person, die sie, trotz ihres Weltruhms ist. Möge diese einzigartige Persönlichkeit ihre humorvollen und weisen Ratschläge bis 120 weiter erteilen!
Foto:
© zdf/Deutschlandfunk Kultur
Auch Karola, damals so genannt, sah ihre Eltern nie wieder, denn sie wurden wahrscheinlich in Auschwitz ermordet. Erst 1945 erfuhr sie von dem Schicksal der Juden in Europa. Eigentlich hätte sie nach Holland gehen sollen, wofür sie registriert war, aber durch eine glückliche Fügung kam sie in die neutrale Schweiz, während sie in dem später besetzten Holland vielleicht das Schicksal einer anderen berühmten Frankfurterin, Anne Frank, hätte teilen müssen. Die Waisenkinder im Kinderheim hielten zusammen wie Geschwister. Nach dem Krieg wanderte Ruth in das britische Mandatsgebiet Palästina aus, sie war 17, und trat der Haganah bei, der jüdischen Untergrundarmee, die für einen jüdischen Staat kämpfte. Angeblich wegen ihrer geringen Körpergröße von 1,40 cm als Scharfschützin ausgebildet, womit sie sich heute noch rühmt, kämpfte sie im Unabhängigkeitskrieg und wurde schwer verwundet, womit ihre Militärkarriere zu Ende ging.
Ruth Siegel studierte ab 1950 Psychologie an der Sorbonne und bekam dort auch Lehraufträge. 1956 emigrierte sie in die USA, heiratete 1961 Manfred Westheimer (der 1997 starb), mit dem sie zwei Kinder hat. Sie studierte an der New School Soziologie bis zum Master (1959) und an der Columbia University Pädagogik. In diesem Fach promovierte sie auch zum Ed.D. Ihre erste Arbeit nach dem Studium für „Geplante Elternschaft“ führte sie zum Studium der menschlichen Sexualität, was sie im Rahmen ihres Post-doc-Forschungsprojekts unter der Leitung von Helen Singer Kaplan an einem New Yorker Krankenhaus durchführte. Ihre Spezialisierung auf dem Gebiet der Sexualkunde erwarb sie außerdem, wie sie sagt, anhand der Pionierarbeiten des Ehepaars William Howell Masters (Gynäkologe) und Virginia Johnson (frühere Countrysängerin und betätigte sich an der Seite Von Masters als Sexualwissenschaftlerin). Das Paar zeichnete bis zu ihrer Scheidung die ersten Daten über das sexuelle Verhalten der Menschen, die Freiwillige in ihrem Laboratorium paarweise oder allein vorführten. Mit ihrem Material widerlegten sie zahlreiche falsche Vorstellungen über die Sexualität und setzten - etwa mit ihrem Vier-Stufen-Modell der sexuellen Reaktion - künftige Maßstäbe, von denen sich heute manche allerdings als irreführend erwiesen haben.
Dr. Ruth Westheimer unterrichtete mehrere Jahre an verschiedenen Colleges, an der Columbia University und an der West Point-Akademie, auch an den Universitäten Yale und Princeton. Bei uns war in den 1960er Jahren die „sexuelle Revolution“ ausgebrochen, zu der Journalist Oswalt Kolle beitrug, der als Laie Sexualaufklärung unters Volk brachte. Das Frankfurter Bahnhofsviertel mit seinen Peep-Show-Buden und Bordellen war legendär. Die Pubertierenden konnten und können noch heute auf ihre Fragen zumindest teilweise von „Dr. Sommer“ aus der nun on-line-Zeitschrift Bravo Antwort erhalten und in den späten 80ern die selbsternannte Sexualberaterin Erika Berger im RTL erleben. Mit den Sex Shops von Beate Uhse begann der Einzug der Erotik quasi in die Fußgängerzonen. Sie alle kamen und gingen, aber Dr. Ruth blieb und steht da wie ein Fels in der Brandung.
Ihr angeblich erster Geschlechtsverkehr mit 17 unter dem Sternenhimmel von Eretz Israel hätte Dr. Ruth, wie sie von ihren Fans genannt wird, die Tür zum Sujet geöffnet. Heute auf Youtube und überall nachzuhören, auch bei uns in den Talkshows, ob etwa bei Johannes B. Kerner, oder bei Markus Lanz zu Gast, hat sie 1980 mit ihrer ersten Radio-Sendung „Sexually Speaking“ in den USA als Erste über Sex öffentlich gesprochen und den Zuhörern Ratschläge erteilt. Sie, als Kind von ihrem Vater allwöchentlich in die Synagoge mitgenommen und in jüdischen Dingen unterrichtet, betont stets, dass sie über den Sex so frei und positiv sprechen kann, weil dieser, im Judentum, anders als in anderen Religionen, nicht als Sünde, sondern im Gegenteil, als göttliches Gebot für Ehepaare gilt. In der Tat wird Sex im Talmud und in der Kabbala ausführlich erörtert und geboten. Mit der ihr eigenen Selbstironie erzählte Ruth in einem Interview, dass sie zu ihren Veranstaltungen und Vorträgen ihren Mann nie einlud, denn, er soll mal, als er von einer Journalistin nach seinem Sexleben gefragt wurde, wie folgt geantwortet haben: Sie wissen, was man über die Schusterkinder sagt – sie haben keine Schuhe und müssen barfuß laufen...
Seit 1997 verwitwet und über die Jahrzehnte selbst nun älter geworden, erweiterte Dr. Ruth, als sie 80 wurde, ihr Beratungsspektrum altersgemäß auf das ältere Publikum, so in dem Buch Silver Sex, Wie Sie Ihre Liebe lustvoll genießen. Ihr neuestes Buch von 2018, da ist sie 90, heißt Stay or Go: Dr. Ruth's Rules for Real Relationships und gibt Anweisung für langanhaltende Paar-Beziehungen. Zwar berät Ruth Westheimer auch homosexuelle Paare, doch heterosexuell orientierte Menschen stehen, da sie auch die Mehrheit der Bevölkerung darstellen, im Mittelpunkt ihrer therapeutischen Arbeit - sie bezeichnet sich auch explizit als Erzieherin und Psycho- und Sexualtherapeutin. Sie wurde demgemäß 1994 mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für ihre Verdienste um die sexuelle Aufklärung ausgezeichnet.
Dr. Ruth war mir als Autorin lange bekannt, 1994 aber lud mein Mann sie zu seinem - als unseren Abschied von Frankfurt organisierten - Kongress über die „Jüdische Kultur in Frankfurt am Main“, wo sie im Plenarsaal des Römers den Eröffnungsvortrag hielt. Um überhaupt gesehen zu werden, musste eigens und eilends eine Bierkiste herbeigeschafft werden, auf die die kleine Person hinter dem Pult steigen musste. Sie ertrug auch dies mit Humor. Wir verbrachten mit ihr während ihres Aufenthaltes dort viele Stunden, unter anderem besuchten wir gemeinsam den alten jüdischen Friedhof in der Rat-Beil-Straße, wo ihre Verwandten begraben liegen. Dabei war damals auch unsere erwachsene Tochter, die sich auf dem weitläufigen Friedhof allein umsah. Als Ruth ihr Fehlen bemerkte, bekam sie einen Riesenschrecken und begann, sie zu suchen, denn, so erklärte sie mit Erleichterung nach baldigem Wiederauffinden, sie hatte Angst, der jungen Frau sei dort etwas zugestoßen.
Diese Begebenheit, an die sie uns auch noch Jahre später wiederholt bei erneuten Begegnung an anderen Orten, auch hier in Berlin, erinnerte, zeigt sie als eine nicht ganz angstfreie – wen wundert’s bei ihrer tragischen Lebensgeschichte – aber sehr warmherzige und empathische Person, die sie, trotz ihres Weltruhms ist. Möge diese einzigartige Persönlichkeit ihre humorvollen und weisen Ratschläge bis 120 weiter erteilen!
Foto:
© zdf/Deutschlandfunk Kultur
