Bildschirmfoto 2018 06 16 um 08.19.29An der Jahrestagung in Jerusalem diskutierten am Dienstag Mitglieder des American Jewish Committee und der Knesset miteinander

Jacques Ungar

Jerusalem (Weltexpresso) - Das American-Jewish Committee hat diese Woche seine Jahrestagung in Jerusalem abgehalten – ein Novum in der 112-jährigen Geschichte der Organisation.

Wenn eine amerikanisch-jüdische Organisation zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Jahrestagung in Israel abhält, dann lässt sie sich das etwas kosten. Natürlich Geld, aber nicht nur. Das American-Jewish Committee (AJC), das diese Woche zum ersten Mal in seiner 112-jährigen Geschichte seine Jahrestagung in Jerusalem abhielt, setzte auch eine gehörige Portion seines Images aufs Spiel. Ob dies aus Gründen der Selbstsicherheit geschehen ist, oder weil man mit diesen publizistischen Alarmglocken seiner Sorge um gewisse gesamtjüdische Entwicklungen zum Ausdruck bringen wollte, kann noch nicht schlüssig beurteilt werden. Da müssen zuerst die israelischen Reaktionen vorliegen, und das kann bei der heutigen innenpolitischen Kon­stellation in Jerusalem eine Weile dauern.


Eine tiefe Kluft

Im Vorfeld seiner Jerusalemer Tagung veröffentlichte das AJC eine Umfrage, aus der hervorgeht, dass die Kluft zwischen den Juden Amerikas und den israelischen Juden unentwegt tiefer und unüberbrückbarer zu werden scheint. Nicht, dass die Juden der USA und Israels sich heute bereits als Feinde gegenüberstehen würden, aber die Zeiten scheinen endgültig passé zu sein, in denen die US-Juden ebenso unkritisch wie unbesehen jede Politik der sich gerade am Ruder befindlichen Jerusalemer Regierung mit unterschreiben und ebenso entschlossen unterstützen würden. Wäre es nicht so ungemein frustrierend, wäre man zu sagen versucht, die Glaubensbrüder und -schwestern aus dem grossen Amerika würden die Vorgänge in und um Israel mit «interessierter Gleichgültigkeit» zur Kenntnis nehmen.

Die wichtigsten Ergebnisse und Diskrepanzen der Umfrage: Während 77 Prozent der israelischen Juden Präsident Donald Trumps Behandlung der Beziehungen zwischen Israel und den USA gutheissen, teilen nur 44 Prozent der US-Juden diese Ansicht. Ähnlich krass ist der Unterschied hinsichtlich des Beschlusses des US-Präsidenten, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen und die amerikanische Botschaft dorthin zu verlegen. 88 Prozent der israelischen Juden befürworten diese Haltung, aber nur 46 Prozent der US-Juden. Die Umfrage zeigt auch, dass amerikanische Juden die Bildung eines unabhängigen Palästinenserstaates und die Evakuierung von Westbank-Siedlungen viel stärker unterstützen als ihre israelischen Glaubensgenossen. Die Diskrepanzen reichen weit in den Bereich der Religion hinein. So unterstützen 80 Prozent der US-Juden nicht orthodoxe Rabbiner, die Trauungen zelebrieren, Scheidung aussprechen und Aufnahmen ins Judentum vornehmen. Bei den israelischen Juden liegt dieser Prozentsatz bei 49 Prozent.


US-Juden gegen Trump

In ihrem Artikel zum Thema zitiert Judy Maltz in «Haaretz» David Harris, den CEO von AJC: «Bedeutend ist für beide Gemeinschaften, dass der Hauptfaktor, der für die Antworten ausschlaggebend ist, die Religiosität der Menschen ist.» Je religiöser sie seien, desto stärker sei ihr Verhältnis zu Israel und ihre Skepsis bezüglich der Friedensaussichten mit den Palästinensern, während die Unterstützung für den religiösen Pluralismus zusehends abbröckle.

Obwohl es auf den ersten Blick nicht durchschimmert, zeigt die Umfrage, dass die meisten US-Juden gegen Trump sind. 71 Prozent waren der Ansicht, seine Leistungen in seinem Amt seien ungenügend, nur 26 Prozent waren zufrieden mit Trumps Arbeit. Gäbe es jetzt Kongresswahlen, würden 67 Prozent für einen Demokraten stimmen und nur 20 Prozent für einen Republikaner. Eine knappe Mehrheit von 55 Prozent der amerikanischen Juden bezeichnet den Status der US-Juden heute als weniger sicher als noch vor einem Jahr.


Trennende und vereinende Themen

Ebenfalls typisch für die wachsende Kluft zwischen den jüdischen Gemeinschaften dies- und jenseits des Ozeans in Bezug auf den Friedensprozess: 68 Prozent der israelischen Juden glauben nicht, dass US-Juden die israelische Politik über Sicherheit und Friedensverhandlungen beeinflussen sollten. Dem gegenüber halten 53 Prozent der US-Juden eine solche Intervention für angebracht. Die Zweistaatenlösung mit einem demilitarisierten Palästinenserstaat fand die Anerkennung von 51 Prozent der US-Juden, aber nur von 
44 Prozent der israelischen Juden. Diese Linie setzt sich fort bei der Frage nach der Räumung von Siedlungen im Zuge einer Friedensregelung: 54 Prozent der israelischen Juden lehnen jegliche Räumung von Siedlungen ab; bei den US-Juden wird diese Haltung nur von 35 Prozent vertreten.

Sucht man nach Faktoren, welche die beiden Gemeinschaften vereinen, muss man schon bis zum recht diffusen Thema der Rolle der jüdischen Diaspora gehen: 78 Prozent der israelischen und 69 Prozent der amerikanischen Juden stimmen darin überein, dass eine blühende Diaspora wichtig sei für die langfristige Zukunft des jüdischen Volkes. Gilt die Frage dem Staate Israel, stimmen 79 Prozent der US-Juden und 87 Prozent der israelischen Juden der Erkenntnis zu, dass ein blühender Staat Israel lebenswichtig sei für die langfristige Zukunft des jüdischen Volkes. Die Ergebnisse der AJC-Umfrage deuten an sich darauf hin, dass die beiden Teile des jüdischen Volkes am liebsten unabhängig vom anderen weiter kutschieren würden. Keine zuverlässigen Antworten gibt es allerdings zur Frage, ob sie das wirklich wollen und, noch wichtiger, ob sie das überhaupt können.


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© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. Juni 2018