kpm Turken bejubeln in Berlin den Sieg ErdogansZustimmung für den Autokraten Erdogan in Deutschland am größten

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – 63 Prozent der in Deutschland lebenden Türken, die sich an der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in ihrer Heimat beteiligten, votierten für die konservativ-islamische AKP und den Despoten Recep Tayyip Erdogan, der die einst durch Atatürk geprägte demokratische Türkei konsequent  in einen islamischen Staat umwandeln will.

Dieses Ergebnis stellt sämtliche Integrationskonzepte infrage; es zerstört alle Illusionen über die Bereitschaft großer Teile der Zugewanderten, sich vorbehaltlos und vollständig in die deutsche Gesellschaft einzubringen. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir drückte seine Resignation so aus: „Das muss uns alle beschäftigen." Denn die feiernden Erdogan-Anhänger jubelten „nicht nur ihrem Alleinherrscher zu, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus". In mehreren deutschen Großstädten feierten Erdogans Anhänger mit hupenden Autokorsos bis tief in die Nacht den Sieg ihres Idols.

Das Wahlverhalten der Einwanderer ist für den Bundesvorsitzenden der türkischen Gemeinde, Gökay Sofuoglu, eine Folge jener Arbeitsmigration, wie sie die Bundesrepublik seit den Sechzigerjahren betrieben habe. Die damals als „Gastarbeiter" zugezogenen Türken stammten vorwiegend aus einem konservativen Arbeitermilieu. „Für sie ist Erdogan derjenige, der Krankenhäuser, Autobahnen und Einkaufszentren gebaut hat", sagte Sofuoglu. Menschenrechte hingegen interessierten sie weniger.

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe sprach am Morgen nach der Wahl von einer "tiefen Spaltung" der türkischen Gesellschaft. Es sei erschreckend, dass sich die Zahl der Anhänger von Erdogans Regierungspartei AKP in Deutschland erhöht habe. Auch sie führte das auf eine faktisch nicht vorhandene Integrationspolitik zurück.

Doch nach welchen Grundsätzen hätte eine solche von Anfang an betrieben werden sollen?

Ich bin in einer Industriestadt des Ruhrgebiets aufgewachsen, in die Gastarbeiter zunächst aus Italien und etwas später vor allem aus der Türkei einwanderten. Etwa ab 1964 gehörten sie zum normalen Alltag. Dennoch war diese Normalität gespalten. Während sich die Italiener relativ schnell eingliederten, gelang das nur einer Minderheit unter den Türken. Dabei stellten mangelhafte berufliche Qualifikationen und das Erlernen der deutschen Sprache für beide Gruppen große Hindernisse dar und erschwerten das Ankommen.

Bereits an den von der IG Metall 1968 initiierten Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze nahmen erkennbar viele Italiener, Spanier, Portugiesen und Jugoslawen teil, jedoch kaum Türken. Obwohl letztere damals bereits die größte Gruppe der Arbeitsimmigranten bildeten. Bei den Streiks der ÖTV für eine deutliche Anhebung der Tarife im Frühjahr 1974 war die Beteiligung der ausländischen Beschäftigten ähnlich, also bei den Türken kaum wahrnehmbar. Zu dieser Zeit gehörte ich einem Stadtbezirksvorstand der Dortmunder Jusos an. Da es für uns unvorstellbar war, dass man sich gegen seine eigenen sozialen Interessen entscheiden und nicht mitstreiken konnte, befragten wir die türkischen Kollegen. Deren Antworten passten nicht in die Zeit: Die Regierungen und die Wirtschaftsführer würden alles regeln und dabei auch die Arbeitnehmerschaft nicht vergessen. Dies entspräche Allahs Willen.

Andere Konfessionen überließen die soziale Frage nicht ausschließlich dem göttlichen Willen, sondern setzten auf Bewusstseinswandel und Engagement der Gläubigen. Unter den Protestanten verfügten die von den Theologen Karl Barth und Paul Tillich geprägten Religiösen Sozialisten noch über einen spürbaren Einfluss im akademischen Raum und bei den Evangelischen Kirchentagen. Und der Nestor der katholischen Soziallehre, der Jesuit Oswald von Nell-Breuning, äußerte überdeutlich: „Wir stehen auf den Schultern von Karl Marx.“

In anderen industriell geprägten Regionen Deutschlands konnte man ähnliche Erfahrungen machen. Und diese blieben auch den hauptamtlichen Politikern nicht verborgen. Doch die Warnungen der Basis vor einer schleichenden Entsäkularisierung der Bundesrepublik durch den importierten fundamentalistischen Islam mit seinen gravierenden Folgen für das Sozialgefüge blieben ungehört. Ein Jahrzehnt später, zur Mitte der 80er Jahre, waren die türkisch-islamischen Parallelgesellschaften in Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Oberhausen, Duisburg, Köln oder Leverkusen nicht mehr zu übersehen, allein schon wegen der ein Kopftuch oder gar einen Schleier tragenden Frauen. Schüler mit völlig unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen dominierten die Hauptschulen und senkten dadurch deren Niveau, sodass selbst lernschwächere deutsche Schüler in die Realschulen drängten und nicht selten dort mangels hinreichender Vorbereitung versagten. Aus den alten Arbeitersiedlungen waren unter dem Druck der Verhältnisse die meisten deutschen Familien ausgezogen und hatten diese vielfach idyllisch gelegenen Wohngebiete den Einwanderern unfreiwillig überlassen.

Doch noch immer reagierte die Politik, vor allem die einflussreiche Sozialdemokratie, hilflos bis gar nicht. Die Warnung aus der Bevölkerung war dann einem Paukenschlag vergleichbar. Bei der NRW-Landtagswahl von 2005 siegte die von Jürgen Rüttgers geführte CDU und bildete mit der FDP eine Regierung. Die wurde fünf Jahre später durch eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft wieder abgelöst. Als 2012 der Haushaltsentwurf keine Mehrheit im Landtag fand, löste sich dieser auf. Bei der Neuwahl errangen SPD und Grüne die Mehrheit, sodass Hannelore Kraft ihre Arbeit fortsetzen konnte. Die Strukturprobleme, zu denen auch die Parallelgesellschaften der türkischen Einwanderer sowie Billiglöhner aus Osteuropa zählen, blieben aber weiter ungelöst. Im Mai 2017 verbuchte die SPD ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1947; die rechtsradikale AfD zog in den Landtag ein. Seither regieren CDU und FDP, Ministerpräsident ist der CDU-Politiker Armin Laschet.

Die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen besitzt Lehrstückcharakter. Doch die Politiker erweisen sich mehrheitlich nach wie vor als lernunfähig, was die Reaktionen auf die Masseneinwanderung von 2015 belegen. Die Probleme liegen hierbei nicht in den wünschenswerten offenen Grenzen Europas. Vielmehr liegen sie im Unvermögen, ein praktikables Instrumentarium zu entwickeln, das Asylberechtigte (= politisch, religiös und rassisch Verfolgte) von Armutseinwanderern rasch und eindeutig unterscheiden kann. Ähnlich wie bei den türkischen Arbeitsimmigranten der 60er und 70er Jahre verlangt man den Einwanderern erneut nicht die verbindliche Einhaltung von Regeln ab. Nämlich einen aufbaufähigen deutschen Mindestwortschatz, eine berufliche Qualifikation nach inländischen Standards sowie die Bereitschaft, sich in den demokratischen Staat vorbehaltlos einzubringen. Zu dessen Kennzeichen gehören auch die Trennung von Staat und Religion, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und das Verbot von jeglichem Rassismus (z.B. Antisemitismus). Der zurzeit praktizierte gleichgültige Humanismus gegenüber den Geflüchteten, der von Schlagworten lebt und Taten vermissen lässt, könnte jedoch zur größten politischen Krise Deutschlands seit 1933 führen und insbesondere einen neuen Faschismus á la AfD salonfähig machen.

Statt eindeutiger Handlungen, die einen souveränen Umgang mit den Problemen signalisieren, häufen sich Peinlichkeiten. So grenzte es an politische Infantilität, als sich Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) am letzten Sonntag auf einer Veranstaltung der Wochenzeitung „Die Zeit“ für Burkinis im Schwimmunterricht aussprach.

Seit 1949 ist der Sportunterricht an staatlichen Schulen keinen religiösen Verdikten unterworfen. Dadurch wurde nachweislich niemandes Sitte und Moral untergraben. Denn es geht ja nicht nur darum, dass alle Kinder Schwimmen lernen sollen, wie Frau Giffey meinte. Es geht auch um das Bewusstsein, dass der menschliche Körper nicht (wie in früheren, von den Religionen dominierten Jahrhunderten) als sündhaft oder unsittlich gilt. Speziell Frauen haben sich allzu lange dem Diktat patriarchischer Sittenwächter beugen müssen, die ihnen ihre gesellschaftliche Gleichberechtigung versagten.
Es ist zu vermuten, dass die in Deutschland lebenden Türken, die jetzt für Erdogan stimmten, sich auch für einen Burkini aussprechen würden. Offensichtlich kann man ohne Bedenken einem Politiker folgen, der die Menschenrechte außer Kraft setzt. Man muss lediglich darauf achten, dass der Körper immer sittsam bedeckt bleibt.

Was diese 65prozentige Zustimmung von in Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen angeht, ist deutlich zu sagen, daß diese die Annehmlichkeiten einer liberalen Demokratie hier in Deutschland gerne in Anspruch nehmen, aber den Türken in der Türkei einen islamischen Staat  verordnen. 

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Türken bejubeln in Berlin den Sieg Erdogans
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