Chronist und Augenöffner für Generationen
Wolf Scheller
Paris (Weltexpresso) Claude Lanzmann, der mit seinem neunstündigen Filmwerk «Shoah» Weltruhm erlangte, war einer der geist- und eindrucksvollsten Intellektuellen der Sartre´schen Epopöe, wenn man so will – einer der ältesten «Neffen» aus dem Hofstaat des Jahrhundertphilosophen vom Montparnasse.
Lanzmann war aber nicht nur einer der engsten Freunde von Jean-Paul Sartre...über sieben Jahre war er auch der Lebensgefährte der 15 Jahre älteren Simone de Beauvoir, mit der er zwei Jahre sogar auf engem Raum gutbürgerlich zusammengelebt hat. Allein schon diese Leistung im «juste milieu» der «Philosophie der Freiheit» mit ihrem linkslibertären Moraldünkel gilt es zu bestaunen, wenn man sich das Leben von Claude Lanzmann vor Augen führt. Seine Erinnerungen («Der patagonische Hase»), aber auch seine zahlreichen Essays und Reportagen bezeugen es: Erstens konnte er fesselnd schreiben, und zweitens:muß man ihm keineswegs überall zustimmen. Er strahlte noch im Alter eine Lebensfreude und Vitalität aus, die von plastischer Ausdrucksweise und präziser Sprachhaltung geprägt waren.
Wie das alles anfing und sich über die Jahrzehnte fortentwickelte, umkreist die Spanne eines abenteuerlichen Lebens, das seinesgleichen sucht. Der in Paris als Kind einer seit dem 19. Jahrhundert in Frankreich ansässigen jüdischen Familie geborene Claude Lanzman hat den Antisemitismus früh kennengelernt, sich aber offenbar nie als Außenseiter empfunden. Seine Eltern trennten sich im Streit, der Vater zog mit den drei Kindern in die Provinzstadt Brioude. Mit der von ihm als recht unansehnlich geschilderten Mutter (in der Tat soll sie sehr «jüdisch» ausgesehen haben) konnte er nicht allzu viel anfangen. Sie war ihm mit ihren «gewaltigen Umarmungen» und ihren «Küssen, die stärker waren als der Tod» zunächst unheimlich, dann zunehmend peinlich. Der Vater hingegen imponierte ihm, vor allem später, als er mit ihm gemeinsam in der Résistance kämpfte. Bis dahin aber musste sich der junge Claude erst einmal über sein Jüdischsein klar werden. Auf der Schule erlebte er, wie ein rothaariger Mitschüler, weil er Jude war, von einer Gruppe von Jugendlichen verprügelt wurde. Dann, als einer der Schläger, ihn auch als «kleinen Juden» entdeckte, leugnete Claude – wie weiland der biblische Petrus: «Aber, nein, ich bin kein Jude.» Dann nahm er sich vor, dass dies das letzte Mal gewesen sei, sich nicht zu seiner Herkunft zu bekennen. Und dieses Versprechen hat er auch gehalten.
Noch in Brioude schloss er sich der Jugendorganisation der französischen Kommunisten an und wurde bewaffnetes Mitglied der Résistance. Zweimal konnte er den Razzien von Miliz und Gestapo im letzten Moment entkommen. Er wusste, dass sein Leben in höchster Gefahr war und er jederzeit hätte gefasst werden können. So wie Lanzmann die Jahre der Okkupation erlebte und sich in dieser Zeit neu entdeckte, präsentierte er sich mitunter als ein viriler Tausendsassa, der sich ein über das andere Mal auch beweisen wollte, was für ein Draufgänger er gewesen ist. Lanzmann, wie er leibte und lebte, dazu ein «homme des femmes» von hohen Graden, der es sogar im kommunistischen Pjöngjang zuwege brachte, mit einer nordkoreanischen Krankenschwester ein handfestes Techtelmechtel zu inszenieren. In den frühen Jahren nach dem Krieg ging es Lanzmann um ein flammendes Plädoyer gegen die Todesstrafe und um sein Engagement für die Unabhängigkeit Algeriens. Lanzmann konnte vermitteln, wie die Intellektuellen von St. Germain-de-Près und aus dem Dunstkreis des Café des Flòres in dieser von Anschlägen und Putschgerüchten vibrierenden Zeit der innenpolitischen Wirren in Frankreich gedacht haben. Folter und Todesstrafe – dagegen bäumte sich bei Lanzmann alles auf, aber da war man noch nicht bei dem «Shoah»-Opus angekommen, das neben der Herausgeberschaft der von Sartre gegründeten Zeitschrift «Les Temps modernes» das eigentliche Lebenswerk des Autors darstellt.
Als bettelnder Geistlicher verkleidet, versuchte Lanzmann sein Studium zu finanzieren, und auf den Champs-Élysées gab er bei regelmässigen Spaziergängen den Frauenversteher und Frauen-Eroberer. Zwischendurch folgte er einer Einladung des später ebenfalls zu Weltruhm gelangenden Schriftstellers Michel Tournier, sein Philosophiestudium in Tübingen fortzusetzen. In Tübingen las man Hegel, klar. Aber anders als Tournier, der aus seinem Faible für «Les allemands» nie ein Hehl gemacht hat, entdeckte Lanzmann vor allem seine tiefsitzende Abscheu gegenüber den Gewaltverbrechen der Deutschen vor und während des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Krieg ging er nach Berlin als Dozent an die FU und verkrachte sich in Dahlem mit Amerikanern und Franzosen. Es ging um die aus seiner Sicht unzureichende Entnazifizierung der Universität, und dabei wurde er in die Affäre um den damaligen Rektor der FU, Edwin Redslob, verwickelt, der – horribile dictu – der Frau von Hermann Göring mehrere Sonette gewidmet hatte.
Von Berlin, wo sein Bleiben nicht mehr erwünscht war, ging es über Frankreich erstmals nach Israel. Und wenn von Liebe die Rede war, dann galt diese Liebe nicht nur schönen Frauen, sondern vor allem dem Staat Israel, den Lanzmann von Anfang an gegen alles und jeden verteidigt hat. Wie er es aber geschafft hat, diese Haltung an der Seite Sartres konsequent beizubehalten, war schon ein kleines Wunder. Er machte dem zur Rechthaberei neigenden Philosophen klar, dass die «Überlegungen zur Judenfrage» überprüft, umgeschrieben, ergänzt werden müssten, dass die Juden nicht auf die Antisemiten gewartet hätten, um zu existieren, ein Volk, das trotz Pogromen, Verfolgungen und dem Holocaust auf seine Art ein Subjekt der Geschichte war.
Das Thema hat er später in zwei Filmen aufgegriffen, in «Warum Israel» (1972) und «Tsahal» (1994).
Unter Lanzmanns Ägide ergriff «Les Temps moderne» in den späteren Nahostkriegen Partei für Israel. Doch die Mitte der fünfziger Jahre war für das Zusammenleben mit Simone de Beauvoir reserviert. Allerdings nervte es ihn, dass jeder Satz, jeder Brief von ihm an Beauvoir sofort an Sartre «weitergereicht» wurde. Der kleine «Poilu» mit dem messerscharfen Verstand und dem dominanten Auftreten war eben doch das Zentrum. Und dass ausgerechnet während dieser Zeit Sartre selbst eine Beziehung mit Lanzmanns Schwester Évelyne einging, einer gefeierten Schauspielerin, die sich gerade von der Trennung von Gilles Deleuze erholte, der sie sitzen gelassen hatte – das machte diese prekäre Geschichte rund, bis hin zum tragischen Ende, dem Selbstmord der Schwester.
Claude Lanzmann hat sich im Alter von alledem innerlich weit entfernt.Viele aus Sartres «juste Milieu» sind inzwischen alt oder schon gestorben. Doch ist diese Zeit untrennbar verbunden mit der Entstehungsgeschichte von Lanzmanns «Shoah»-Film. Um über dieses Werk, das mit den Mitteln des dokumentarischen Films den Völkermord an den europäischen Juden beschreibt, bewerkstelligen zu können, hat Lanzmann zwölf Jahre lang unter oft äusserst abenteuerlichen und schwierigen Bedingungen recherchiert. Seine «Ermittlungen», oft erschlichen unter irgendeinem Vorwand und mit verstecktem Mikrophon, ähnelten der Praxis von Max Ophüls. Oft gingen die Arbeiten nicht weiter, weil das Geld fehlte. In anderen Fällen kam es zu rabiaten Übergriffen und Attacken von alten Nazis, deren Aussagen Lanzmann unbedingt für seinen Film benötigte. Da war die Geschichte, oder sagen wir, das Bild von dem patagonischen Hasen, dem er nachts auf einer Strasse in Richtung der chilenischen Grenze begegnete. Beim Anblick des die Fahrbahn überquerenden Hasen hatte er plötzlich das Gefühl der Gewissheit: «Ich bin von der Welt weder übersättigt noch ermattet, und hundert Leben, das weiss ich nur zu gut, würden mich nicht müde machen.» Und tatsächlich kehrt das Motiv des Hasen später in «Shoah» wieder, wenn ein erdfarbener Hase von einem Stacheldrahtzaun im KZ Birkenau aufgehalten wird...
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. Juli 2018