Linke erneut in der Findungsphase
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Hoffnung auf Mitte-Links“ hieß die Veranstaltung, zu der Stefan Liebich (Linke) eingeladen hatte.
Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert und die Ko-Vorsitzende der Grünen, Annalena Baerbrock, folgten dem Ruf zu einem Gedankenaustausch. Nicht anwesend, aber mental präsent, war Sahra Wagenknecht. Insbesondere ihre These „Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind das Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten“ veranlasst SPD, Grüne und Teile der Linken zu Sorgen.
Sie sehen Wagenknecht auf einem nationalen Weg, übersehen aber dabei, dass die AfD erst jüngst auf ihrem Parteitag in Augsburg die Ständestaat-Ideologie des Faschismus bekräftigt hatte. So ist die Infragestellung der gesetzlichen Rente zu Gunsten von labilen Zertifikaten der Versicherungswirtschaft ein typisches Kennzeichen des Neoliberalismus, der jegliche soziale Verpflichtung einschließlich einer von der Allgemeinheit getragenen Daseinsvorsorge ablehnt. In dieses Bild passt auch die Leugnung der durch den Menschen verursachten Klimaveränderung und die antieuropäische Gesinnung.
Der nicht zu leugnende Rechtsruck in der Gesellschaft, den die Linken sowie die Linken in SPD und Grünen beklagen, ist jedoch auch das Ergebnis ihrer eigenen Unentschlossenheit sowie fehlender klarer Standpunkte gegenüber relevanten Problemen.
So hat die SPD es geschafft, von 1998 bis 2017 ca. 45 Prozent ihrer Wähler zu verlieren und fragt sich nach wie vor, woran das liegen könnte. Erst als ihr letzter Kanzlerkandidat zaghaft mehr soziale Gerechtigkeit einforderte, gingen die Umfragewerte leicht nach oben. Doch als klar wurde, dass die Fetischisten der so genannten Mitte eine Neuorientierung nicht zulassen würden, falls diese zu Lasten von besonders Wohlhabenden und Reichen ginge, ging die Zustimmung wieder in den Keller.
Die Grünen hingegen stabilisierten sich bzw. verzeichneten leichte Zuwächse, mutmaßlich, weil sie die soziale Frage immer seltener stellen, neue Zielgruppen anpeilen (z.B. in schwarz-grünen Koalitionen bzw. die Rechts-Links-Schemata als überholt ansehen wie Robert Harbeck) und die Ökologie auffallend in den Hintergrund rücken (siehe die Kapriolen des grünen hessischen Wirtschaftsministers Tarek Al-Wazir angesichts der Umweltbelastungen durch den Frankfurter Flughafen).
Die Linke findet ausgerechnet unter jenen, die dringend der sozialen Solidarität bedürfen, den geringsten Zuspruch. Und mangels zukunftsweisender Perspektiven gehen ihr allmählich auch die Intellektuellen verloren.
Alle demokratischen Parteien einschließlich ihrer linken Flügel zeigen sich der Herausforderung durch die Flüchtlingsproblematik nicht gewachsen. Dabei ist das Grundgesetz in dieser Frage eindeutig: „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ lautet Artikel 16a, Absatz 1. Die nachfolgenden Absätze dieses Grundrechts regeln die Einreise aus Mitgliedstaaten der EU sowie aus gesetzlich zu definierenden sicheren Herkunftsländern bzw. betonen die Konvention zum Schutz der Menschenrechte, der sich die Bundesrepublik angeschlossen hat.
Die Aufnahme politisch Verfolgter wäre kein Problem für dieses Land. Weder ihre Anzahl noch ihre Gesinnung und Bildung würden es überfordern; ja, diese Menschen könnten sogar eine wichtige Quelle für erwünschte Zuwanderung sein. Ebenso könnte die behutsame Öffnung für typische Zuwanderer im Rahmen eines Einwanderungsgesetzes sozialverträglich sein.
Doch der Artikel 16a verkam zu einer Geschäftsidee der global operierenden Schlepperorganisationen. Jedem, der die Passage nach Europa zahlen kann, wurde und wird er als „Sesam öffne dich“ mit auf den lebensgefährlichen Weg gegeben. Folglich bitten Massen von völlig unpolitischen und mehrheitlich ungebildeten Menschen um Asyl in Deutschland, einem Land, das ihnen nahezu unbekannt ist und an dessen Strukturen sie mutmaßlich scheitern werden. Integration fordert notwendigerweise den Zuwanderern die Einsicht ab, dass sie ihr bisheriges Leben einschließlich der Vorstellungen über das Wesen des Staats und seiner Bürger sowie der Rolle von Mann und Frau anpassen müssen. Eine Mammutaufgabe, die alle Beteiligten an ihre Grenzen führt. Und das selbst dann, falls die Bundesrepublik keine sozialen Verwerfungen aufwiese.
In Deutschland geht die soziale Schere jedoch immer weiter auseinander, was nicht zuletzt eine Folge der Schröderschen Deregulierungen ist. Der Anteil der im Wirtschaftsprozess trotz solider Ausbildung Überflüssigen wächst und ebenso wächst die Angst derer, die demnächst von strukturellen Veränderungen potentiell betroffenen sein könnten. In einer solchen Situation kommt es einem Hasardspiel gleich, wenn Zuwanderung nicht klar und - falls nötig - restriktiv geregelt wird. Der Normalbürger hat bereits mehrfach die Erfahrung gemacht, dass Kosten und sämtliche sozialen Folgen politischer Fehlentscheidungen ihm allein aufgebürdet werden. Wer die diesbezüglichen Sorgen der Menschen ausblendet, legt Hand an die Grundfesten der Demokratie und überlässt das Schicksal der Nation jenen, deren geistige Mütter und Väter für die größte Katastrophe in der Geschichte verantwortlich waren. Auch wenn diese historischen Ereignisse von den Neo-Faschisten im Rahmen der angestrebten Deutungshoheit lediglich als „Vogelschiss“ bewertet werden.
Hier vermisse ich von Linken aus den genannten Parteien sowie den unabhängigen Linken, zu denen ich mich zähle, überzeugende Antworten und Lösungsansätze. Sahra Wagenknechts Analysen könnten dabei hilfreich sein. Denn Humanität, die sich letztlich in Flüchtlingskasernen und in der lebenslangen Abhängigkeit von Transferleistungen manifestiert und den Blick auf die eigentlichen Fragen in der Gesellschaft verstellt, ist zutiefst inhuman.
Verantwortungsvoll wahrgenommene Humanität sollte vor allem bedeuten, die Lebensrechte dieser Menschen in ihrer jeweiligen Heimat entscheidend zu stärken. Dazu bedarf es sowohl massiven politischen Drucks auf die Machthaber in den Herkunftsländern (eine erste Maßnahme könnte die Beschlagnahme ihrer Konten und ihrer Luxusliegenschaften in Europa sein) als auch einer drastischen Steuerwarnung an die multinationalen Unternehmen, die weiterhin auf die Rechtlosigkeit ihrer Arbeitssklaven in Kleinasien und Afrika setzen und die die Kriege in den Regionen als Kollateralschäden abtun.
Es wäre fatal für Deutschland, für Europa und die Welt, falls eine nicht zu Ende gedachte Humanität zum Ende von Demokratie, Rechtsstaat und friedlicher Nachbarschaft führte. Die Zeichen, die spätestens seit 2015 unübersehbar sind, müssen ernstgenommen werden. Von der Großen Koalition erwarte ich derzeit keine Umkehr. Die demokratische Linke müsste jetzt entscheidende Anstöße zu einem Umdenken geben. Hoffentlich überhört sie dieses Mal nicht die Signale.
Foto:
Ein nicht belegtes Camp für Flüchtlinge in Rendsburg
© NDR