Bildschirmfoto 2018 07 09 um 07.54.56Der deutsche Liedermacher und Lyriker über Angela Merkel und die aktuelle Herausforderung hinsichtlich der europäischen Flüchtlingspolitik

Wolf Biermann

Hamburg (Weltexpresso) - Wir stehen heute im 21. Jahrhundert mal wieder an einem Scheideweg: Mutig vorwärts in ein liberales,­ weltoffenes Europa oder feige zurück ins 19. Jahrhundert der Nationalstaaterei. Ich überlebte zwei dunkle Epochen: die Nazi-Diktatur und die DDR-Diktatur. Mein jüdisch-kommu­nistischer Vater wurde in Auschwitz ermordet. In Ostberlin lebte ich zwölf Jahre unter einem totalen Verbot.

Das war – trotz alledem und alledem – eine gute Zeit, denn meine rebellischen Lieder­ und kritischen Gedichte verbreiteten sich illegal umso wirkungsvoller. 1976 wurde ich gegen meinen Willen auf die westliche Seite des Eisernen Vorhangs gejagt, also von Deutschland nach Deutschland ins Exil. Die internationalen Solidaritätsbekundungen gegen diese unrechtmässige Ausbürgerung, vor allen Dingen aber die Proteste in der DDR selbst, erschütterten das DDR-Regime enorm.


Überglücklich enttäuscht

In den Zeiten des Kalten Krieges war ich mir sicher, dass die Berliner Mauer länger halten wird als ich. Als 1989 in unserer friedlichen Revolution die Mauer fiel, erwies sich mein melancholischer Zweckpessimismus als eine Täuschung. Ich war überglücklich enttäuscht. Die Wiedervereinigung unseres schuldbeladenen Vaterlandes stand auf der Tagesordnung der Weltgeschichte. Die Amerikaner akzeptierten schnell, die Russen im Chaos, die Franzosen skeptisch und die Engländer widerwillig.­ Und als dann auch noch der ganze Ostblock zerbröselte, ohne Big Bang, ohne einen heißen Krieg, ohne blutige Bürgerkriege, da wusste ich ganz genau, dass wir in ganz Europa von jetzt ab ein neues, ein besseres Lebenslied singen­ werden. Schluss mit dem kommunistischen Tierversuch an lebendigen Menschen! Meinungsfreiheit!­ Frieden! Und Demokratie!

Der CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl besänftigte die Westdeutschen mit dem Märchen, dass die Wiedervereinigung gar nicht so teuer wird, wie befürchtet. Er versprach seinen Landeskindern: «Diese Kosten bezahlen wir aus der Portokasse.» Und den Ostdeutschen verkündete er, wie ein profaner Wahlkampf-Messias «blühende Landschaften». Kohls Versprechungen erwiesen sich – mit einiger Verspätung – immerhin als halbe Wahrheiten. Der Westen zahlte sich beim Aufbau-Ost mit 2000 Milliarden Dollar nicht bankrott.­ Und im Osten Deutschlands blühen heute manche Städte und Landschaften noch schöner als viele Städte und Gemeinden im Westen­ unseres Landes.


Freiheit gleich Verantwortung

Doch die letzten Jahrzehnte haben uns gelehrt, dass es viel leichter ist, neue Strassen und Häuser und moderne Fabriken zu bauen, als aus ge­­knebelten Untertanen tolerante Demokraten zu machen. Die sogenannten «Ossis» haben sich in der friedlichen Revolution vor 30 Jahren zwar endlich selbst befreit, haben dann aber mühsam lernen müssen, dass das Zauberwort «Freiheit» – in simples Deutsch übersetzt – nichts anderes bedeutet, als Verantwortung zu tragen für sich selbst. Gelernten Sklaven tut Freiheit halt weh. Für die heimliche Sehnsucht nach den Be­­quemlichkeiten in der Diktatur gebrauchte ich ein neues Spottwort: «Ostalgie». Und mit dem westlichen Wohlstand wuchs paranoid in der Ex-DDR eine paradoxe soziale Existenzangst.

Als die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 sich dafür entschied, Kriegsflüchtlinge, besonders aus Syrien und Afghanistan, unkontrolliert ins Land zu lassen, war das eine tragische Situation. Ja, bei Shakespeare auf dem Theater begreift man leicht, was der Begriff Tragödie bedeutet: Jede mögliche Lösung ist falsch. Der dramatische Held muss sich nicht zwischen Gut und Böse ent­scheiden, sondern fataler: Ob er lieber diesen Fehler­ macht oder den anderen, denn falsch ist in solcher Katastrophe alles.


Ein gebranntes Weltenkind

Mir, einem gebrannten Weltenkind in der Mitte Europas ist es klar, und ich habe diese Wahrheit am eigenen Leibe erlebt, dass die unvollkommenste Demokratie immer noch besser ist als die beste Diktatur. Angela Merkel hat sich vor drei Jahren in einer Ausnahmesituation entschieden, Tausende verzweifelte Flüchtlinge an der deutschen Grenze nicht mit Stacheldraht, Knüppeln, Wasserwerfern und Maschinengewehren und Panzern zurückzujagen, nicht nach Österreich, Ungarn, Griechenland, die Türkei und womöglich in den Krieg in Syrien oder Afghanistan. Jaja, das war ein Fehler. Aber es war eben der kleinere, der bessere, es war der «richtige» Fehler. Im Flüchtlings-Tsunami stehe ich ganz auf Seiten unserer Kanzlerin, weil sie sich als eine tatkräftige Humanistin bewährt hat, sich wie eine echte Christin verhält und trotz der innereuropäischen Turbulenzen eine stoische Europäerin geblieben ist. Sie zeigt der Welt das freundliche Gesicht menschlicher Vernunft.

Dieser wunderbare Fehler vor drei Jahren brachte Angela Merkel persönlich in aller Welt Sympathien ein. Ihre mutige Entscheidung hat dem Ansehen der Deutschen mindestens so genützt wie nach der Nazizeit das weltweit bewunderte Wirtschaftswunder. In Deutschland selbst unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche fast modellhaft so, wie die östlichen und die westlichen Staaten in der Europäischen Union. Auch hier zeigt sich, dass Diktatur nicht mit ihrem Sturz aufhört zu wirken. In den osteuropäischen Ländern des einstigen Ostblocks, wo es kaum Ausländer­ und am wenigsten Flüchtlinge gibt, ist die Angst vor ihnen am grössten.


Ein Desaster für Europa?

Die Attacken gegen die Kanzlerin Angela Merkel seit der Grenzöffnung 2015 schaukeln sich manchmal hysterisch hoch. In diesem trüben Wasser fischen die Populisten. Dabei muss man wissen, dass die grosse Mehrheit der Deutschen die Parteien gewählt hat, die Merkels Flüchtlingspolitik mitgetragen hatten. Aktuell versucht Angela Merkel,­ wenn schon nicht alle, so wenigstens den avancierten Teil der Europäischen Staaten für die Politik eines liberalen Europas zu gewinnen. In Brüssel ist es der Bundeskanzlerin gelungen, den Gordischen Knoten, mit dem ihr «trumpeliger» Innenminister Horst Seehofer sie hatte fesseln wollen, zwar nicht zu zerschlagen, aber mit poli­tischem Geschick diesen Knoten geduldig zu lockern und auch zu lösen. Die Frage, die in der Europäischen Union knallhart geklärt werden muss: Wie gelingt es, dass die Europäischen Staaten sich darauf einigen, ihre Aussengrenzen zu sichern, allerdings ohne eine menschenwürdige Asylpolitik aufzugeben. Wir in Europa streiten über die einigermassen gerechte Verteilung der Flüchtlinge. Sollte Angela Merkel an dieser Frage scheitern, wäre dies für diese starke Kanzlerin nur eine Niederlage, aber für Europa ein Desaster.

Ich denke, dass nur ein Viel-Völker-Europa, wie Karl der Grosse es als Erster verkörperte, wie der eigensinnige Winston Churchill es nach dem Krieg prophezeite, dass nur ein demokratisch geeintes Europa der verschiedenen Kulturen, im globalen Existenzkampf mit den aufstrebenden und den etablierten Grossmächten, sich behaupten kann.

Im Moment sehen die Demokratien ange­schlagen aus. Auf längere Sicht werden die freien Gesellschaften sich politisch nur behaupten, wenn sie sich auch wirtschaftlich durchsetzen – etwa gegen den totalitären Turbo-KZ-Kapitalismus in China hilft nur eine starke Bündelung der europäischen Volkswirtschaften. Genau dafür stehen­ Emmanuel Macron und Angela Merkel. Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigenen­ Hände nehmen, ganz im Sinne der Pointe in dem Gedicht «Invictus» von William Ernest Henley: «I am the master of my fate: I am the captain of my soul.»


Gefahr der Mutlosigkeit

Die Gefahren im Streit der Welt waren immer gross. Aber die größte Gefahr ist unsere Mut­losigkeit. In diesem Geiste schrieb ich mir und meinen tapferen Freunden in der DDR ein Lied: «Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um». Die politischen Häftlinge kauten es auch im Knast wie ein Stück Seelenbrot. Welcher Song­writer könnte diese Verse so ins Amerikanische nachdichten, dass vielleicht meine verehrte Freundin Joan Baez das Lied singen möchte – es passt zu dieser Ikone der Unbeugsamkeit. Sie besuchte und ermutigte mich Geächteten 1966 in Ostberlin. Vor ein paar Tagen trafen wir uns mal wieder bei Gelegenheit ihres Konzerts in Hamburg. Wir redeten miteinander wie einst im Mai, als hätten wir nicht beide inzwischen weiße Winter-Haare.


Foto:
Angela Merkels mutige Entscheidung 2015 hat dem Ansehen der Deutschen mindestens so genützt wie nach der Nazizeit das weltweit bewunderte Wirtschaftswunder – auf dem Foto macht ein Flüchtling ein...© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. Juli 2018