Gedanken zum „Fall Mesut Özil“
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Fall des Mesut Özil erinnert mich an eine Deutschstunde vor langer Zeit. Die Studienrätin fragte: Was sind Riesenzwerge? Und was sind Zwergriesen?
Eigentlich wusste es jeder, selbst wenn manchem die Definition des Unterschieds etwas schwer fiel. Doch am Ende hatten wir kapiert, was das Determinans (der bestimmende Teil eines zusammengesetzten Worts) und was das Determinatum (das Wort, das in der Verbindung näher bestimmt wird) ist.
Warum mir das einfiel? Weil ich mich mal wieder frage, was der Begriff „Deutsch-Türke“ meint. Er scheint zu einem Sammelbegriff geworden zu sein für alle hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln, unabhängig von ihrer Präferenz für das jeweilige Land. Die logische Umkehrung, also „Türk-Deutscher“, hört man weniger bis gar nicht (leider auch nicht in den Qualitätsmedien, also der Welt außerhalb von Facebook und Twitter).
Ersterer ist gemäß der Sprachlogik ein türkischer Staatsbürger (Türke ist das Determinatum), hat aber eine deutsche Sozialisation erfahren (Deutsch als Determinans). Letzterer hingegen ist Deutscher, hat aber türkische Wurzeln, die er mehr oder minder deutlich betont.
Und es gibt selbstverständlich auch noch Deutsche, die dieses Land (Sprache, Kultur, Werte) vollständig annehmen und ihre Herkunft allenfalls in nostalgischen Momenten in Erinnerung rufen.
Mesut Özil ist formal (rechtlich und von den Bedeutungsinhalten der deutschen Sprache her) ein Türk-Deutscher, also deutscher Staatsbürger mit türkischen Wurzeln und spielte bis vor wenigen Wochen in der deutschen Fußballnationalmannschaft. „Sein“ Präsident ist folglich der Präsident der Bundesrepublik Deutschland; ein Amt, das derzeit Frank-Walter Steinmeier innehat. Özil fühlt sich jedoch ebenfalls (oder besonders?) Recep Tayyip Erdoğan, dem Staatspräsidenten der Türkei, verbunden. Dieser muss sich nachsagen lassen, für die fortschreitende Entdemokratisierung der Türkei (verbunden mit der Aufhebung der Pressefreiheit, der Inhaftierung und Misshandlung politischer Gegner sowie diversen Korruptionsskandalen in seiner persönlichen Umgebung) verantwortlich zu sein.
Daraus lässt sich schließen, dass der Fußballer nicht nur ein Problem mit seiner Identität hat (was an seiner Erziehung liegen könnte), sondern auch mit der Demokratie. Der sich so gründlich missverstanden fühlende Jungmillionär, der zunächst keine Stellung zum Fototermin bei Erdogan bezog, reagierte nunmehr mit einer Botschaft in englischer Sprache, in der er sich über Ausgrenzung und Rassismus beschwerte. Mutmaßlich wurde diese Klage von Leuten verfasst, von denen sich Özil leichtfertig instrumentalisieren lässt. Dieses Geflecht von gegenläufigen sportlichen und politischen Interessen durchschaut er nicht.
Vor diesem Hintergrund gibt der Fall von Mesut Özil Anlass zu dem Hinweis, dass Integration der Bereitschaft zur Bildung und der uneingeschränkten Zustimmung zu demokratischen Werten bedarf.
Foto:
Mesut Özil im Trikot der deutschen Nationalmannschaft
© ARD / Tagesschau