Vorläufiger Abgesang auf eine Partei
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der größte Feind der SPD / sind nicht die Demokraten / am linken Rande, nee, / nicht Künstler, Eifertaten, / ihr größter Feind sind Machtintrigen / in jeder ihrer Vorstandsriegen.
Das katastrophale Abschneiden der SPD in Bayern habe an der unzureichenden Performance ihrer Regierungsarbeit in Bonn gelegen, kommentierten Andrea Nahles und Generalsekretär Lars Klingbeil den unaufhaltsamen Niedergang ihrer Partei.
Diese und ähnliche Stellungnahmen reihen sich ein in die unendliche Kette sozialdemokratischer Lebenslügen. Denn der Partei mangelt es nicht an Selbstdarstellung; vielmehr besitzt sie nichts, was sich positiv darstellen ließe. Die Mehrheit ihrer Mandatsträger und Funktionäre erweckt den Eindruck, allenfalls intellektuelles Mittelmaß zu sein. Eine Clique ohne Bildung, ohne Ideale, ohne Mut und Charisma. Diese Gruppe verfügt weder über das gesellschaftliche Bewusstsein einer Interessensvertretung der Nichtkapitaleigentümer, noch vermag sie die Forderungen der Wähler nach Gerechtigkeit und Solidarität zu erfüllen.
Mit Gerhard Schröders „Agenda 2010“, die von Lobbyisten des Neoliberalismus entworfen worden war, wurden wesentliche Elemente des traditionellen sozialdemokratischen Selbstverständnisses über Bord geworfen. Die erste Quittung dafür kam prompt – mit der verlorenen Landtagswahl von 2005 in NRW. In verhängnisvoller Fehleinschätzung der Lage riskierten Schröder und Müntefering daraufhin eine vorgezogene Bundestagswahl und kassierten erneut eine (wenn auch knappe) Niederlage. Seither hangelt sich die Partei von einer Großen Koalition zur nächsten (mit Ausnahme der Legislaturperiode 2009 bis 2013). Unaufhaltsam steuert sie im Bund der 20 Prozent-Marke in der Wählergunst zu, in Bayern hat sie nunmehr die 10 Prozent-Schwelle unterschritten.
Was sie als Erfolge ausgibt, sind in Wahrheit Fehlschläge, die ihre Klientel direkt treffen: Verschleierung der Situation auf dem Arbeitsmarkt durch Leiharbeit und befristete Verträge, bessere Bildungschancen für Privilegierte, Absenkung des Rentenniveaus, nicht mehr von Arbeitnehmern und Unternehmen paritätisch getragene Krankenversicherungsbeiträge, permanente Krisen im Gesundheitssystem, eine Mietpreisbremse, welche die Spekulation anheizt, Enteignung der Kleinsparer durch eine EZB, die sich den Interessen der Multis unterworfen hat, Begünstigung von Betrügereien der Autoindustrie, kein Stop des Klimawandels, Hilflosigkeit bei der Bekämpfung von Fluchtursachen und der Integration von Zuwanderern, unprofessionelles Vorgehen gegen Verfassungsfeinde – von der AfD bis zu Maaßen.
Die Rettung der SPD wird nur noch durch eine radikale Aktion möglich sein. Noch vor der Landtagwahl in Hessen müssten sämtliche sozialdemokratischen Mitglieder des Bundeskabinetts, die jemals Schröders Politik unterstützten oder rechtfertigten, ausgetauscht werden. Desgleichen müssten bundesweit sämtliche Vorstandsmitglieder, die direkt oder indirekt die Agenda-Politik befürworteten, von ihren Ämtern zurücktreten. Ein Mitglieder-Exekutivrat, der beispielsweise unter Leitung von Andrea Ypsilanti und Kevin Kühnert stünde, hätte interimsmäßig die SPD bis zu den nächsten Parteitagen zu führen. Dieses Gremium sollte ein Programm entwerfen, das die o.g. Defizite der bisherigen Parteivorstände und Regierungsmitglieder in klare Forderungen ummünzte:
Abschied von der Deregulierung, Rückführung ehemaliger Staatsunternehmen in Gemeineigentum (z.B. Telekom, Deutsche Post, Postbank), Verbot der Börsen- und Immobilienspekulation, Besteuerung von Luxuswohnungen, staatlicher Wohnungsbau, durchgängiges Bildungssystem, Sicherung der staatlichen Altersrente nach dem Vorbild Österreichs, Einführung einer Bürgerkrankenversicherung, Neustrukturierung des Gesundheitswesens inklusive eines Verbots privater Kliniken und Pflegeheime, Abschied vom Verbrennungsmotor und dessen Ersatz durch die Brennstoffzelle bei gleichzeitigem Vorrang für den Schienenverkehr, konsequente Energiewende durch staatliche Eingriffe, Schaffung einer lückenlosen technischen Basis für die Digitalisierung, Überführung kommerzieller Kommunikationsnetze in öffentlich-rechtliche Trägerschaft in Anlehnung an den Rundfunk.
Habe ich noch Wesentliches vergessen? Vermutlich ja, darunter auch den Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht gegen AfD und andere Neonazi-Organisationen.
Es gäbe viel zu tun. Denn das seit 2003 verloren gegangene Vertrauen in die SPD kann nur durch außergewöhnliche neue Ziele und deren konsequente Propagierung und Umsetzung zurückgewonnen werden. Die Zeit des Kleinmutes und der Kleingeister wäre einzuläuten.
Foto:
Die SPD-Spitzenkandidatin in Bayern, Natascha Kohnen, in Erklärungsnot nach den ersten Hochrechnungen am Wahlabend
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