Die Hamas übt neuerdings ihre terroristischen Aktivitäten nicht mehr nur im Gazastreifen, sondern auch in der Westbank und in Ostjerusalem aus
Jacques Ungar
Jerusalem (Weltexpresso) - Schon seit Monaten weisen massgebliche israelische Sicherheitskreise immer nachdrücklicher auf eine sich abzeichnende Verlagerung der Terroraktivitäten der Hamas-Bewegung vom Gazastreifen in die Westbank und Ostjerusalem hin. Diese Beurteilung des Geschehens scheint sich nun mit zunehmendem Tempo zu akzentuieren. Der Feuerüberfall auf eine Gruppe Israeli vom Sonntagabend bei der Autostopp-Haltestelle ausserhalb der Westbanksiedlung Ofra – sieben Verletzte, darunter eine werdende Mutter mit ihrem durch Kaiserschnitt nach dem Anschlag verfrüht zur Welt gebrachten Knaben – dürfte dabei nur die jüngste, aber keinesfalls letzte Bestätigung für diese wenig Gutes verheissende Ansicht gewesen sein. Die Armee hat inzwischen ihre Truppen in der Gegend von Ramallah auf der Suche nach dem Täter oder den Tätern durch die zusätzliche Entsendung einiger Kompanien Soldaten wesentlich verstärkt. Zwei missglückte Rammversuche durch palästinensische Autofahrer – ein Versuch bei Hebron, ein zweiter im Jordantal – müssen als weitere Indizien für die steigende Unruhe interpretiert werden.
Eskalation in der Westbank?
Vor einigen Monaten bereits bezeichnete IDF-Generalstabschef Gadi Eisenkot eine Eskalation in der Westbank als «höchst wahr-scheinlich». Im November doppelte Nadav Argaman, Chef des Inland-Geheimdienstes Shabak, nach und meinte, die relative Ruhe in der Gegend würde täuschen: «Die Hamas versucht hartnäckig, Terrorakte in Judäa und Samaria (in der Westbank, Anm. d. Red.) und von diesen Gegenden aus durchzuführen.» Diese spezifische Entwicklung ist gegenläufig zum Gesamttrend, der für die ersten sechs Monate 2018 auf einen Rückgang in der Zahl der Attentate hinwies. Laut Shabak wurden in der gleichen Periode aber sechs Israeli in der Gegend von Palästinensern ermordet. Ebenfalls gemäss Shabak-Geheimdienst wurden alleine im Oktober 108 Attacken in der Westbank und in Jerusalem registriert, verglichen mit nur 80 im September. 15 der Attacken wurden mit verbesserten Versionen von Sprengsätzen verübt, 80 mit Brandbomben, vier mit dem Messer und zwei mit Schusswaffen. Hinzu kommen acht Brandstiftungen. Zwei israelische Zivilisten wurden im Oktober schliesslich von einem Palästinenser in der Industriezone Barkan unweit der Westbankstadt Ariel getötet.
Keine Lösung in Sicht
Nicht weniger beunruhigend als die Zahl der effektiv ausgeführten Anschläge ist die Zahl der verhinderten Attacken. Shabak-Chef Argaman wies in seinem November-Briefing für die Knessetkommission für Aussenpolitik und Verteidigung darauf hin, dass der Geheimdienst in der Berichtsperiode nicht weniger als 480 Terrorattacken in der Westbank vereiteln konnte, einschliesslich 219 von Hamas-Zellen geplanten Anschlägen, sowie 590 Attacken, die Einzelgänger, sogenannte «einsame Wölfe» verüben wollten. Dabei ist eine rasche Lösung des Problems nicht in Sicht, geben die IDF doch unumwunden zu, dass Attacken, die alleine tätige Individuen planen, für die Sicherheitskräfte eine ungleich grössere Herausforderung darstellen, als im Gruppenverband durchgeführte beziehungsweise geplante Verbrechen.
Sucht man nach Gründen für die Zunahme der Hamas-Umtriebe in der Westbank, kommt man rasch auf die desolate Wirtschaftslage zu sprechen. Auch wenn die Situation in der Westbank in dieser Beziehung grundsätzlich viele besser ist als im Gazastreifen, kam es auch in der Westbank zu einer dramatischen Verschlechterung, als US-Präsident Trump die Finanzierung der Uno-Flüchtlingsagentur UNRWA für die palästinensischen Flüchtlinge (die längst nicht mehr alle Flüchtlinge sind, sondern deren Kinder und Enkelkinder) einstellte. Hochrangige IDF-Offiziere warnen immer wieder vor einer totalen Abschnürung der Palästinenser vom finanziellen Strom aus dem Ausland. Das würde, wie sie sagen, die Jugendlichen aus den vor dem finanziellen Ruin stehenden Schulen hinaus und auf die Strasse in die Hände der Terroristenchefs treiben. Bereits heute ist die Hälfte der jungen Generation der Westbank-Palästinenser unter 30 Jahre arbeitslos. Die Betroffenen verlieren zusehends die Hoffnung und werden verzweifelter. Diese Entwicklung endet sehr oft in der Mitgliedschaft bei terroristischen Zellen. Damit rechnen die Hamas-Drahtzieher, und davor fürchten sich die zahlenmässig immer weniger werdenden gemässigten Palästinenser wie kompromissbereite Israeli. Die Zeichen der Zeit stehen eindeutig auf Konfrontation und Gewalt, und bei fortschreitender Verlagerung der Hamas-Aktivitäten vom Gazastreifen in die Westbank rücken die israelischen Bevölkerungszentren für die Terroristen in immer gefährlichere Nähe.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 13. Dezember 2018