Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Kurz vor dem Jahreswechsel steckt die Knesset mitten in einer Vorwahl-Periode, die Binyamin Netanyahu möglichst lange hinauszögern möchte, um seine Interessen zu wahren.
Ob es uns passt oder nicht: Trotz aller Terroranschläge, Teuerungswellen ohne Ende und trotz der traurigen Nachricht vom Hinschied der erst 54-jährigen Astronauten-Witwe Rona Ramon steckt Israel bereits mitten in einer Vorwahl-Periode, die, wenigstens wenn Netanyahu seinen Willen durchsetzen kann, noch recht lange dauern wird.
Wahlkampf-Karussell
Das anlaufende Wahlkampf-Karussell ist geprägt von einer eskalierenden Polarisierung und Unnachgiebigkeit. Auf der Suche nach Stimmen geben potenzielle Kandidaten sich umso sturer und extremer, je weiter rechts sie politisch-ideologisch angesiedelt sind, oder gerne angesiedelt sein möchten. Nehmen wir die jüngste parlamentarische Debatte über die Legalität der Gesetzesvorlage über die Abschiebung palästinensischer Familien von Terroristen aus ihrem Wohnort in der Westbank. Dass die liberale Zeitung «Haaretz» dies unter anderem als «illegale, unmoralische und ineffiziente Bestrafung» geisselt, überrascht dabei weniger als die schon fast an ideologisches Sendungsbewusstsein grenzende Unterstützung, mit der Premier Binyamin Netanyahu dieser «effizienten» Massnahme das Wort redet. Das Abschieben von Terroristen-Familien aus ihren Heimorten in der Westbank ist laut Netanyahu eine Abschreckung. Dabei ignorierte der Premier gewollt oder zufällig die Warnung politischer und militärischer Experten, dass die Vorlage einerseits zu Klagen wegen angeblicher Kriegsverbrechen gegen Israel am internationalen Strafgerichtshof führen, andererseits aber auch die bereits spannungsgeladene Stimmung in der Westbank bis zum Siedepunkt eskalieren lassen könnte. Zu verlockend scheint Netanyahu das Abschiebegesetz im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen und den mit ihnen verbundenen Stimmenfang im rechtsextremen Lager zu sein. So verlockend, dass der Regierungschef bereit ist, seine bisherige mehr oder weniger dezidiert ablehnende Haltung zu dem für Israel ganz besonders emotional aufgeladenen Instrument zu sein.
Streit um Gesetzesvorlage
In einer Sitzung der Likud-Fraktion verteidigte Netanyahu seinen Standpunkt unter anderem wie folgt: «Meiner Meinung nach sind die Vorteile (der Abschiebevorlage, Anm. d. Red.) grösser als die Kosten.» Er antwortete damit seinem Parteikollegen Benny Begin, der als einziger Likud-Abgeordneter gegen das Gesetz Stellung bezog, weil es wirkungslos sei. Netanyahu liess sich aber nicht beirren: «Die Abgeordneten sagen, es gehe gegen legale Richtlinien, wie sie definiert seien, was vor Gericht sicherlich angefochten werden würde. Ich zweifle jedoch die Wirksamkeit dieses Instruments nicht an.» Die Kommentare des Premiers kamen einen Tag nachdem die Ministerkommission für Gesetzgebung eine von Bildungsminister Naftali Bennett unterstützte Vorlage des Abgeordneten Motti Yogev abgesegnet hatte, welche der Armee die Ausschaffung von Familienmitgliedern eines Terroristen aus ihrem Haus durch ihren Transfer in eine andere Stadt gestatten würde. Einschränkungen des präsumptiven Gesetzes: Es wäre nur anwendbar, wenn die Familie von den Plänen des Terroristen wusste und ihn oder sie ermutigte. Zudem müsste der Terrorist jemanden getötet oder dies beabsichtigt haben.
Generalstaatsanwalt Avichai Mendelblit widersetzt sich der Gesetzesvorlage, die «verfassungswidrig» sei, weil sie die Freiheit der zur Abschiebung bestimmten Familienmitglieder wegen der Handlung eines anderen Verwandten ernsthaft beeinträchtigt, ohne dass Beweise für die Gefährlichkeit der Familie vorliegen würden. Mehrer Likud-Minister halten das Vorliegen von Beweisen für unnötig.
Realpolitik und Wahlkampagnen
Das endgültige Schicksal der umstrittenen Vorlage ist noch nicht geklärt. Es kann aber jetzt schon gesagt werden, dass für die Befürworter die Meinungen von Generalstaatsanwälten oder israelischer oder gar ausländischer Gerichte nur minimale Bedeutung haben. Die Vermischung von Realpolitik und Wahlkampagnen mit Religion und Ideologie hat eben auch ihre dunkeln, unfreundlichen Seiten. Daran werden sich in Israel, aber auch in den jüdischen Gemeinden in aller Welt gar manche Experten (echte und vermeintliche) mehr als einen Zahn ausbeissen müssen. Die Auswirkung dieser Brachialtherapie für das jüdische Volk in- und ausserhalb Israels ist dabei mehr als ungewiss. Darüber dürfen wir uns ebenso wenig etwas vormachen wie darüber, dass letztlich wahrscheinlich jene, die uns diese trübe Suppe eingebrockt haben, sie wahrscheinlich höchstens partiell auch selber auslöffeln müssen.
Foto:
Binyamin Netanyahu ignoriert die Warnungen politischer und militärischer Experten
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. Dezember 2018
Binyamin Netanyahu ignoriert die Warnungen politischer und militärischer Experten
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. Dezember 2018