Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - In diesen Tagen maßen sich Viele ein Urteil über die Briten und Großbritannien an, das ihnen nicht zusteht. Zum einen, weil sie die vielschichtigen Gründe nicht kennen, die zur Mehrheitsabstimmung zum Austritt aus der Europäischen Union geführt haben, zum andern weil sie voreingenommen sind durch die Berichterstattung der deutschen Medien.
Die Niederlage der Premierministerin Theresa May im Unterhaus bei der Abstimmung über den Austrittsvertrag sagt für sich genommen wenig aus. Unter denen, die den Vertrag ablehnen, sind auch Konservative, nach deren Meinung ihre Parteifreundin den Verhandlungsführern der EU zu weit entgegengekommen ist. Nun soll das Unterhaus am 29. Januar über einen Plan B der Premierministerin abstimmen. Ein Grund mehr, nach den Motiven zu fragen, die beim Brexit eine Rolle gespielt haben und auch künftig den Kurs des Landes bestimmen werden.
Großbritannien werde gestaltendes Subjekt im europäischen System bleiben und keineswegs zum Objekt werden, sagte der irische Historiker Brendan Simms im Gespräch mit dem Spiegel. (51/2018). Das Land habe in seiner Geschichte immer wieder feindliche Übernahmen abgewehrt. Der Versuch einer einvernehmlichen Übernahme durch die EU sei zum Scheitern verurteilt gewesen. Auf den Einwand, Isolationismus sei für die britische Insel nie eine Lösung gewesen, erwiderte Simms: „Wenn es eine Macht in Europa gibt, die auf eigenen Füßen stehen und aus eigener Kraft überleben kann, dann ist es Großbritannien. Tausend Jahre Konflikt und Zusammenarbeit in Europa sind für Großbritannien immer ein Kampf ums Überleben in Eigenständigkeit gewesen. Es wird es auch diesmal schaffen.“
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Nach Ansicht des Historikers wollte die EU unbedingt verhindern, dass der Brexit den Anschein eines Erfolges bekomme. „Aus historischer Sicht kann ich jedoch sagen, dass noch niemand versucht hat, das Vereinigte Königreich zu bestrafen, ohne Strafe für sich selbst heraufzubeschwören. Großbritannien ist nicht Griechenland. Griechenland konnte man bestrafen, denn ohne die EU wäre es eben nur wieder Griechenland. Großbritannien außerhalb der EU wäre aber nicht einfach nur ein europäisches Land wie jedes andere.“ Die EU habe sich selbst nie ganz klar gemacht, was sie eigentlich ist und sein wolle. Die britischen Befürworter des Beitritts hätten dagegen sehr wohl klargestellt, dass die Mitgliedschaft in der EU die britische Souveränität auf keinen Fall gefährden dürfe. Großbritannien könne in der Neuzeit auf eine ungebrochene Kontinuität seiner demokratischen Souveränität zurückblicken. Das schaffe ein ganz anderes Nationalbewusstsein. Die europäischen Gründerväter hätten nach dem Zweiten Weltkrieg aus einer anderen Erfahrung heraus und in einem anderen Geist gehandelt.
Auf die Frage, ob der britische Fehler darin bestanden habe, die eigentlich erwünschte europäische Integration von innen heraus zu bremsen, statt sie aus wohlwollendem Abstand von außen voranzutreiben, verwies Simms darauf, dass die Staaten und die Menschen auf dem Kontinent selbst europaskeptisch geworden seien und es immer mehr würden. Zugleich treibe sie der Ehrgeiz, eine große Macht in der Welt sein, was sie jedoch ohne volle politische übernationale Union nicht sein könnten. Das sei der Grundwiderspruch der EU. Die Deutschen scheinen nach den Worten des irischen Historikers das Verständnis dafür verloren zu haben, dass das europäische Projekt auf das Ziel ausgerichtet gewesen sei, das Wiedererstarken eines deutschen Nationalstaates zu verhindern und Deutschland stattdessen in ein größeres Ganzes einzubinden. „Deutschland ist strukturell so stark und so bedrohlich als Hegemon, dass es in Europa aufgelöst werden muss – ob es das will oder nicht.“
Dem Einwand, der Brexit werde für die „absurde Trotzreaktion“ eines Landes gehalten, das sich nicht damit abfinden könne, keine Supermacht mehr zu sein, hielt Brendan Simms entgegen: „Dieser Verdacht scheint mir unbegründet. Schon während des EU-Beitritts vor 45 Jahren kreiste die Auseinandersetzung vor allem um den Erhalt der Souveränität, nicht um die Dimension des Commonwealth. Großbritannien habe seine innere Ordnung selbst gestaltet, sie wurde ihm nicht auferlegt. Die Demokratie werde immer noch von den Nationalstaaten getragen. Die Macht in Europa habe sich gewissermaßen atomisiert. Sie befinde sich nirgendwo mehr. „Für mich liegt darin das ganze Paradox des Brexits – wie ein derart inkohärentes Gebilde versucht, einem kohärenten Gebilde Ordnung beizubringen und den Abtrünnigen zurückzuholen.“
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