Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Im Gegensatz zum Vorstandsvorsitzenden des Allianz-Konzerns Oliver Bäte, der Gerechtigkeit für eine marxistische Metapher hält, betrachtet der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, Gerechtigkeit als den zentralen Begriff bei der friedlichen Lösung von gesellschaftlichen Konflikten.
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“ Diesen Satz aus dem Buch der Sprüche Salomos (14,34) wählte Bedford-Strohm als Motto für einen Vortrag, den er 2010 in Wittenberg gehalten hat. In dem Satz steckt nach seinen Worten eine tiefe Weisheit. Wo die Gerechtigkeit systematisch und dauerhaft verletzt werde, da werde ein Gemeinwesen krank, da gedeihten Unduldsamkeit, Hass und Gewalt. „Und umgekehrt gilt dann: Wo ein Gemeinwesen in seinen Grundfesten auf Gerechtigkeit gebaut ist, wo immer neu für sie gestritten wird, da blüht dieses Gemeinwesen. Da werden auch schwierige Probleme im Geiste der Achtung und der Solidarität angegangen.“
Das hatte der Sozialdemokrat Gerhard Schröder wohl aus den Augen verloren, als er mit seiner Agenda 2010 ein Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems auf den Weg brachte, das einseitig zu Lasten der Schwächsten ging und die SPD um ihren Ruf als Volkspartei und Vertreterin der Interessen eben jener Menschen gebracht hat. Neun Jahre nach der folgenreichen Entscheidung sagte Schröder jetzt im Gespräch mit dem Spiegel: „Wir brauchen Volksparteien, um die Gesellschaft zusammenzuhalten und Interessen auszugleichen.“ (Nr.6/2019, S.39).
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Volksparteien sind Ausdruck unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen. Jeder Versuch, es allen recht machen zu wollen, wird für sie zum Bumerang, wie die jüngsten Stimmenverluste beweisen. Dass selbst die Linkspartei das „Auseinanderdriften der Gesellschaft“ beklagt, wie Dietmar Bartsch das dieser Tage im Deutschlandfunk getan hat, ist Ausdruck eines allgemeinen Hangs zur Unschärfe bei der Beschreibung gesellschaftlicher Zustände. Dieses Auseinanderdriften hat etwas mit oben und unten zu tun, mit der immer tiefer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Wer diese Kluft verringern will, muss etwas herausnehmen aus den Fleischtöpfen der Reichen und es den Armen geben.
Angesichts dieser schlichten Wahrheit wirkt es geradezu rührend, dass die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Maria-Antonia Karliczek (CDU), den Aufbau eines „Instituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt“ plant. Einer Pressemitteilung ihres Ministeriums zufolge wurde dafür ein Verbund aus Hochschul- und Forschungsinstituten ausgewählt. Elf Einrichtungen aus zehn Bundesländern sollen gemeinsam ein Forschungsprogramm und eine Lenkungsstruktur für das dezentral angelegte Institut erarbeiten. Die Ministerin sagte zur Begründung des Vorhabens: „Die Lebenswirklichkeiten von Stadt und Land verändern sich und driften teilweise auseinander. Neue Medien verändern die Kommunikationskultur. In unserer pluralistischen Gesellschaft stellen sich andere Fragen als bisher, wenn es um Zugehörigkeit und Identität geht. Das neue Institut wird uns helfen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.“
Die neuen Fragen sind in Wirklichkeit die alten. Nicht das Auseinanderdriften von Stadt und Land und nicht die neuen Medien bestimmen die Zukunft der Menschheit, sondern der obszöne Reichtum auf der einen Seite und die schreiende Armut auf der anderen. Etwa 4,4 Millionen Kinder in Deutschland sind nach Schätzungen des Deutschen Kinderschutzbundes von Armut betroffen – etwa 1,4 Millionen mehr als bisher angenommen. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“ Wie wäre es mit einem Bundesinstitut zur Beseitigung der Kinderarmut? Die Leitung muss ja nicht gerade der Allianz-Vorstand Bäte übernehmen.
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Justitiabrunnen
©Frankfurt.de
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