Erinnerungen an den Auschwitz-Prozess im Bürgerhaus Gallus Frankfurt, Teil 2
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Manchmal werde ich gefragt, ob ich nicht endlich damit aufhören möchte, immer wieder von Auschwitz zu erzählen und von all den schrecklichen Dingen, die sich dort zugetragen hätten. Ich antworte dann: Wer weiß, was in Auschwitz passiert ist und wie alles angefangen hat, ist für immer gefeit gegen den Nazi-Ungeist, in welcher Form er uns auch gegenübertritt. Eine der unvergesslichen Szenen, die ich als Journalist während des Auschwitz-Prozesses erlebt habe, beschreibe ich in meinem Bericht vom 31. März 1964:
Einen tiefen Einblick in das infernalische Geschehen vermittelten die Aussagen der Zeugin Dr. med. Ella Lingens aus Wien. Sie war Häftlingsärztin im Krankenrevier des Frauenlagers in Auschwitz und verdankt ihr Überleben dem SS-Arzt Dr. Rohde, der sie von ihrer Studienzeit in Marburg her zu kennen glaubte. „Er hat mir das Leben gerettet, aber er hat auch Zehntausende dem Tod überantwortet.“ Die früh ergraute Zeugin ergänzte diese Feststellung durch den aufschlussreichen Satz: „Ich kenne kaum einen SS-Mann, der nicht sagen könnte, er habe einem das Leben gerettet. Aber alle, die sich auf irgendeine Weise ein Alibi zu verschaffen suchten, mordeten in anderen Fällen ohne Bedenken. Dr. Mengele beispielsweise schickte 750 Frauen ins Gas, um die Läuseplage zu bekämpfen. Er wollte eine Baracke frei haben, um das Ungeziefer dort ausrotten zu können...“
Die Zeugin sagte das im Anschluss an die Schilderung eines schrecklichen Erlebnisses. Sie sei an einem Scheiterhaufen vorbeigekommen, auf dem zu Tausenden Leichen verbrannt wurden. Plötzlich habe ein SS-Mann etwas durch die Luft ins Feuer geworfen, das sich bewegte. Es war ein Kind, ein lebendes Kind. Die Ärztin weigerte sich ihren Worten zufolge instinktiv, das Entsetzliche als wahr hinzunehmen. Während sie das kleine Wesen durch die Luft wirbeln sah, redete sie sich, dass es ein Hund sein müsse. Aber es war kein Hund, es war ein Kind.
Aus meinem Bericht vom 31. Mai 1964: Die Zuhörer saßen wie gelähmt und blickten mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau im Zeugensstuhl. Soeben hatte sie noch mit beherrschter Stimme die Folterung von Häftlingen auf der berüchtigten „Boger-Schaukel“ geschildert, nun fehlten ihr plötzlich die Worte. Stockend berichtete sie, wie eines Tages auf einem Lastkraftwagen 50 Kinder im Alter von etwa fünf bis zehn Jahren ins Lager gebracht wurden. „Ich erinnere mich an ein Mädchen...“ Da bricht ihre Stimme ab, die Schultern beginnen zu zucken, die in Österreich gebürtige Zeugin Jenny Schaner bricht in verzweifeltes Weinen aus. Sie ist unfähig, noch ein Wort zu sagen. Entsetzen breitet sich aus. Niemand, der diese Szene miterlebt hat, wird die schrecklichen Minuten vergessen.
Noch weiß keiner, was die Zeugin so aufwühlt, aber jeder ahnt, dass es etwas Furchtbares sein muss. Dann gewinnt Jenny Schaner die Fassung wieder. Das kleine Mädchen habe einen Jungen an der Hand geführt und sei mit fragend erhobenem Kopf auf einen in der Nähe stehenden SS-Mann zugegangen. Ganz sicher habe es eine kindliche Frage auf den Lippen gehabt, vielleicht wollte es fragen „Wo sind unsere Eltern geblieben?“ Statt einer Antwort holte der SS-Mann nach der Schilderung der Zeugin mit seinem schweren Stiefel aus und versetzte dem Kind ein Fußtritt, dass es wegflog und weinend liegen blieb. Alle Kinder des Transportes begannen zu weinen. Doch in den Gesichtern der SS-Leute zeigte sich keine Rührung. Sie trieben die unschuldigen Wesen zusammen und brachten sie weg. Keiner hat sie jemals wieder gesehen.
Foto:
Dr. Ella Lingens, entnommen dem Begleitbuch zu der nicht mehr existierenden Wanderausstellung „Auschwitz-Prozess k Ks /2/63 Frankfurt am Main“, herausgegeben von Irmtrud Wojak im Auftrag des Fritz Bauer Instituts.
Die Redaktion möchte hinzufügen, daß sie Kenntnis davon hat, daß der damalige Leiter des Fritz-Bauer-Instituts, Raphael Gross, dessen Stellvertreterin Irmtrud Wojak, die auch die große Bauerbiographie veröffentlicht hat, damals war, daß also Gross verfügt hat, daß die Exponate der Ausstellung allesamt weggeworfen wurden. Ein ungeheuerlicher Vorgang, den aber außerhalb des Institutes niemanden interessierte, schlicht, weil keiner davon Kenntnis hatte. Die Redaktion
Dieser Beitrag ist eigentlich die dritte veröffentlichte Erinnerung von Kurt Nelhiebel an den Auschwitzprozeß in der Folge der Benennung des Großen Saales des Bürgerhauses Gallus, in dem der 1. Auschwitzprozeß stattfand, als FRITZ-BAUER-SAAL. Als erstes kam ein Abdruck aus einem von ihm vor Jahren veröffentlichten Buch. Die jetzige Numerierung sind aktuell neue Beiträge, die aufgrund der Benennung entstehen.