Yves Kugelmann
Zürich (weltexpresso) - Tachles: Sie sind Mitglied der Kommission für die Beziehungen zum Judentum der Schweizer und der Deutschen Bischofskonferenz, bis 2019 waren Sie auch in der vatikanischen Kommission. Der Vatikan hat die Öffnung des sogenannten Geheimarchivs rund um die Dokumente von Papst Pius XII. angekündigt. Wieso geschieht das jetzt?
Christian Rutishauser: Das päpstliche Privatarchiv kennt eine Sperrfrist für Dokumente zu einer Person bis 70 Jahre nach ihrem Tod. Dies ist in vielen anderen Archiven auch üblich. Da Pius XII. 1958 verstorben ist, sollten die Dokumente zu ihm erst 2028 freigegeben werden. Weil seine Haltung gegenüber der Judenvernichtung durch die Nazis jedoch sehr umstritten ist, hatte bereits Johannes Paul II. entschieden, die Dokumente so rasch wie möglich zu ordnen, damit Wissenschafter arbeiten können. Dies brauchte seine Zeit. Nun, am 80. Gedenktag an die Ernennung von Eugenio Pacellis zum Papst, wurde bekanntgegeben, dass in einem Jahr das Archiv mit den Daten zu ihm von 1939 bis 1958 geöffnet wird.
Es soll sich um rund 200 000 Dokumente handeln. Darunter befinden sich auch solche zur berühmten Weihnachtsansprache des Papstes von 1942.
Diese Weihnachtsansprache steht exemplarisch für die Haltung von Pius XII. gegenüber der Judenvernichtung. Er prangert öffentlich an, dass Menschen wegen Rasse und Nationalität verfolgt und umgebracht werden, nennt die Juden aber nicht explizit. Warum? Klar wusste jedermann, dass der Papst auf die Judenvernichtung anspielte. Doch warum diese Zurückhaltung? War es Diplomatie, notwendig, um nicht grössere Verfolgung auszulösen? Oder wollte er nur sich und die Kirche schützen? Den Berliner Bischof von Preising, der sich für den Schutz von Juden einsetzte, unterstützte er zum Beispiel explizit. Wir haben also unterschiedliche Signale. Der Einblick in den Kontext wird helfen, das Verhalten des Papstes besser zu verstehen. Dabei geht es natürlich auch um Fragen, wie es zu solchen Aussagen und zu Entscheidungsfindungen in seiner Amtszeit gekommen ist.
Unter Papst Pius XI. wurde eine Enzyklika vorbereitet, die den Antisemitismus explizit verurteilte. Doch vor der Veröffentlichung starb der Papst 1939. Warum hat sie Pius XII. nicht veröffentlicht?
Genau solche Fragen werden nun genauer beantwortet werden können, wenn die Archive offen sind. Vielleicht befürchtete Pius XII., die Nazis würden bei einer offenen Kritik noch repressiver reagieren. Solche Erfahrungen mussten ja die Bischöfe in Holland machen. Einige meinen auch, die Nazis hätten einen Plan gehabt, auch den Papst zu entführen. Auf alle Fälle ist gerade jetzt die Zeit der Spekulationen und Vermutungen zu Ende, weil man zum historischen Material Zugang hat.
Bereits 2003 und 2006 wurden die Archive zu Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., teilweise geöffnet. Was ändert sich nun in der historischen Beurteilung?
Ich bin kein Historiker. Ich verfolge jedoch die Arbeit von Professor Hubert Wolf von der Universität Münster. Mit seinem Team hat er diese Dokumente, die bis 1939 reichen, untersucht. Sie geben Einblick, wie Pacelli als Nuntius in Berlin gewirkt hat. Wir haben Informationen über seine Arbeits- und Denkweise erhalten. Auf der einen Seite ist er wirklich ein integrer Kirchendiplomat. Andrerseits ist ihm aber auch die Pastoral an den Gläubigen ein grosses Anliegen gewesen, was lange übersehen wurde. Wolf arbeitete heraus, dass Pacelli zwar mit Hitler das Konkordat ausgehandelt hat, doch unglücklich über die Zentrumspartei war, als sie 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte. Er hat aufgrund der Forschung auch die Hypothese aufgestellt, Pacelli sei von der Geschichte der Kirche in Deutschland doppelt traumatisiert worden: Einmal hat Pacelli gesehen, wie im Kulturkampf die Kirche durch Bismarck stark gelitten hatte. Zudem hätte er das Scheitern der Friedensinitiative von Papst Benedikt XV. von 1917 vor Augen gehabt. Professor Wolf geht davon aus, dass solche Erfahrungen später dazu geführt haben, dass Pacelli als Pius XII. so vorsichtig vorging.
Sie selbst waren nun einige Jahre Mitglied der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Der Schweizer Kardinal Koch leitet diese. Was tun Sie konkret?
Es wird in mehreren Gremien gearbeitet. Auf der einen Seite geht es um die Interessen der Kirche im Staat Israel. In meiner Arbeit ging es mehr um theologische und soziale Fragen. Wie können jüdische und kirchliche Gremien in verschiedenen Ländern zusammenarbeiten? Was muss getan werden, dass sich Juden und Katholiken besser verstehen? Wie wird das Judentum im katholischen Unterricht, in der Predigt etc. dargestellt? Es geht um Aufarbeitung der Schuldgeschichte, des christlichen Antijudaismus. Das gemeinsame geistige Erbe von Juden und Christen gilt es zudem in Erinnerung zu rufen. So wurde zum Beispiel ein «Tag des Judentums» in verschiedenen Ortskirchen gefördert. Die päpstlichen Dokumente laden auch ein, dass Juden und Katholiken zusammen die Heiligen Schriften auslegen und sich so gegenseitig bereichern. Dazu gibt es zahlreiche Dokumente, Treffen und Projektinitiativen. Ich habe im vergangenen Juni beispielsweise an der Young Leadership Conference in Vilnius gesprochen, wo wir junge Katholiken und Juden in der Zusammenarbeit fortbilden.
Die Frage der Vatikan-Archive und ihrer Öffnung hat von jeher auch für Mythen und Vermutungen gesorgt. Eine ist, dass sich im Archiv noch Relikte aus der Zeit des Zweiten Tempels befinden. Nun sind aber die Archive geöffnet worden und nichts war da. Glauben Sie, dass solche Gegenstände noch auftauchen könnten?
All das gehört in den Bereich von Science Fiction, Verschwörungstheorien etc. Es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun.
Der Dialog zwischen Katholiken und Juden hat nach dem Zweiten Weltkrieg fundamentale Änderungen bewirkt. Das gilt nicht für das gesamte Christentum. Wie steht es um diesen Dialog insgesamt?
Die Beziehungen zwischen Katholiken und Juden sind heute gut und stabil. Viele Freundschaften sind entstanden, was unerlässlich ist. Die kontinuierliche Arbeit der Kirche zur Aufarbeitung der Schoah, zur jüdischen Heiligen Schrift in der Thora, zur Theologie des Bundes von Gott mit dem Judentum, der unwiderruflich ist, etc. haben Niederschlag in verschiedensten Erklärungen gefunden. Auch von jüdischer Seite sind seit 2000 Dokumente wie «Dabru emet» oder «Den Willen unseres Vaters im Himmel tun» entstanden. Im jüngsten Dokument des Rabbinical Council of America, der Europäischen Orthodoxen Rabbinerkonferenz und des Oberrabbinats in Israel wird sogar darauf hingewiesen, dass sich Christen aller Denominationen an der katholischen Kirche und ihrer erneuerten Beziehung zu den Juden orientieren sollten.
Der amtierende Papst hat sein Verhältnis zu Juden und Muslimen immer wieder formuliert. Was bedeutet dies für das jüdisch-katholische Gespräch und wie steht es um den trilateralen Dialog zwischen den abrahamitischen Traditionen?
Seit dem zweiten Vatikanischen Konzil bemüht sich die Kirche um den Dialog mit dem Judentum und mit dem Islam. Die Arbeit läuft meistens getrennt, da die Fragestellungen verschieden sind, vor allem aber auch die sehr unterschiedliche Geschichte. Zudem erschwert der Nahostkonflikt den trilateralen Dialog. Dies bedeutet nicht, dass es im Vatikan nicht auch immer wieder Tagungen und Expertenaustausch zu verschiedenen Religionen gibt. Seit der Islam zu einem Thema des Westens geworden ist, schwingt der muslimisch-christliche und der muslimisch-jüdische Dialog zudem regelmässig auch in die christlich-jüdischen Beziehungen hinein. So sprechen die jüngsten Dokumente sich einerseits nicht nur gegen Antizionismus als versteckten Antisemitismus aus, sondern verurteilen auch den muslimischen Terror gegen Christen.
Als Jesuit haben Sie eine besondere Verpflichtung gegen über dem Papst. Wie steht es um die Geschichte zwischen Jesuiten und Juden, ist diese aufgearbeitet?
Das sind zunächst zwei unterschiedliche Dinge. Der Jesuitenorden stellt sich seit seiner Gründung im 16. Jahrhundert vor allem in den Dienst der weltweiten Aufgaben der katholischen Kirche. Er ist daher nicht Bischöfen unterstellt, sondern arbeitet direkt für die Sendungen des Papstes. Dann wiederum ist die Frühgeschichte des Ordens von den Conversos in Spanien geprägt. Forschungen gehen heute davon aus, dass im 16. Jahrhundert etwa ein Viertel der Ordensmitglieder jüdischer Herkunft waren. Im 19. und 20. Jahrhundert kam es zu tragischen Verstrickungen: Einerseits wurden Juden, Jesuiten und Freimaurer in einen Topf geworfen. Andererseits trugen viele Jesuiten die antijudaistische Theologie der Kirche mit. Dies lässt sich an ihrer Zeitschrift «Civiltà Cattolica» zeigen, die überdies das offiziöse Sprachorgan der Päpste war und ist. Seit dem Konzil ist auch in dieser Beziehung sehr viel aufgearbeitet worden.
Foto:
Der Jesuit Christian Rutishauser
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. März 2019
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. März 2019