Erinnerungen an den Auschwitz-Prozess im Bürgerhaus Gallus Frankfurt, Teil 3
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – In meiner Reportage vom 23. April 1964 über das Prozessgeschehen schildere ich unter anderem die Einvernahme des ehemaligen SS-Richters Dr. Konrad Morgen, der zur Zeit des Auschwitz-Prozesses als Rechtsanwalt in Frankfurt am Main tätig war. Die SS-Führung hatte ihn beauftragt, „Unregelmäßigkeiten“ in Auschwitz zu untersuchen. Einigen SS-Leuten wollte nämlich nicht einleuchten, dass sie das geraubte Gut der vergasten Opfer samt und sonders nach Berlin abliefern sollten:
Ein kleines Feldpostpäckchen, das ein Angehöriger des Vergasungskommandos an seine Frau geschickt hatte, war durch sein abnormes Gewicht aufgefallen und wurde geöffnet. Es enthielt mehrere Klumpen primitiv eingeschmolzenen Zahngoldes, das vergasten Menschen ausgebrochen worden war. Der frühere SS-Richter erzählte, dass es sich um mehrere Kilo gehandelt habe, die den Gegenwert von wahrscheinlich 100.000 Leichen dargestellt hätten. Er folgte in Auschwitz – wie er sagte – der Spur der Todesfrachten von der Eisenbahnrampe zu den Entkleidungsräumen vor den Gaskammern; er besichtigte die Gaskammern und das Krematorium, das er als „riesigen Saal“ beschrieb. „Alles atmete sachliche, neutrale, wertfreie Atmosphäre, alles war spiegelblank.“
„Einen wirklichen Schock“, so erzählte Dr. Morgen, habe er beim Betreten der Wachstube des Vergasungskommandos erlitten. Was schockierte ihn? Er vermisste die „spartanische Einrichtung“, die doch ein Merkmal aller Wachstuben sei. Stattdessen habe er einen schummrigen, halbdunklen Raum mit mehreren Sofas vorgefunden, auf denen SS-Leute, Alkoholfahnen vor dem Mund, mit glasigen Augen vor sich hin dösten, während Mädchen ihnen auf einem großen Herd inmitten der Wachstube Kartoffelpuffer backten.
Dr. Morgen schaffte „Ordnung“. Er nahm den SS-Leuten das Gold und die Wertgegenstände ab, die sie in ihren Spinden gelagert hatten. Gegen das Morden unternahm er nichts; das gehörte schließlich zu dieser „Ordnung“.
Aus meinem Prozessbericht vom 31. Oktober 1964: Am 5. Oktober trat zum ersten Mal ein Mann in den Zeugenstand, der in Auschwitz einem Todeskommando angehört hatte, und zwar dem Sonderkommando im alten Krematorium des Stammlagers, das nach den Vergasungen die Leichen verbrennen musste. Die Haare des Zeugen sind grau, obwohl er erst 42 Jahre alt ist. Filip Müller aus Prag berichtete beklemmende Einzelheiten von seinen Eindrücken vor und nach den Vergasungen. Noch nie hat jemand in diesem Prozess von diesen Dingen erzählt. Wenn die Türen der Gaskammern geöffnet wurden, standen die Leute nach seiner Schilderung dicht gedrängt vor den Ventilatoren. „Sie waren im Stehen gestorben. Eine Mutter hielt noch ihr Kind an der Brust, auf dem Boden lagen grüne Kristalle. Es roch etwas nach Mandeln. Dann kam Stark und trieb uns an, die Öfen zu entschlacken.“
Stark ist einer der Angeklagten. Der Zeuge berichtete, Stark habe mehrere Häftlingskameraden, die vor Erschöpfung zusammengebrochen seien, kaltblütig mit der Pistole erschossen. Einmal habe sich ein Mann unter den Kleidern der Gaskammeropfer versteckt. „Stark entdeckte ihn und stellte ihn an die Wand. Zunächst schoss er ihm in das eine Bein und dann in das andere. Anschließend setzte Stark den Verletzten auf einen Koffer und erschoss ihn." Dieses Ungeheuer in Menschengestalt war vor dem Auschwitz-Prozess Lehrer an einer Landwirtschaftsschule in Lövenich, heute ein Stadtteil von Köln.
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Entnommen dem Bildband „Der gelbe Stern“, erschienen 1960 bei Rütten & Loening. Die Aufnahme stammt aus dem Frühsommer 1944, als täglich bis zu sechs Züge mit jüdischen Männern, Frauen und Kindern in Auschwitz eintrafen und die zur Tötung vorgesehenen Opfer oft einen ganzen Tag vor den Gaskammern warten mussten, bis die Reihe an sie kam.