Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Welchen Stellenwert in der deutschen Erinnerungskultur haben eigentlich ehemalige KZ-Häftlinge, die den Schikanen der Bewacher trotzten und ihren Widerstand gegen das Terrorsystem der Nazis auch hinter Stacheldraht fortsetzten? In der Regel handelt es sich dabei um Kommunisten. Hatten sie keinen Anspruch auf Würdigung ihres Verhaltens, weil sie einer falschen Weltanschauung anhingen?
Die angeblich unantastbare Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen nach Artikel 1 des Grundgesetzes Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, hatte für diese Personen keine Geltung. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das Bekenntnis zum Schwur von Buchenwald wird als Ausdruck linksextremistischer Gesinnung gedeutet. Den Behörden des Landes Nordrhein-Westfalen genügt das, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes die Gemeinnützigkeit abzusprechen. Ein Skandal, der zum Himmel schreit. Was hört man dazu von den Verteidigern der Menschenrechte in den Medien, in Politik und Gesellschaft? Nichts.
In dem Bekenntnis der befreiten Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald vom April 1945 heißt es: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Mehr als 70 Jahre später werden diese Sätze als Aufforderung zum Sturz der demokratischen Grundordnung ausgelegt - als hätte es die mittelalterliche Inquisition mit ihren rabulistischen Verdrehungen niemals gegeben.
Die langjährige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, erinnert im „Lexikon des deutschen Widerstandes“ (S.Fischer Verlag, 1994) daran, dass über interne Vorgänge in den Konzentrationslagern, wie etwa die Ahndung von Widerstandshandlungen, in den überlieferten NS-Dokumenten, kaum Informationen zu finden seien. Deshalb sei man nahezu ausschließlich auf die Erinnerungen von Zeitzeugen angewiesen. Einer dieser Zeitzeugen ist der linkskatholische Publizist und Sozialwissenschaftler Eugen Kogon, der seine Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten mit einer siebenjährigen KZ-Haft in Buchenwald büßen musste.
Unmittelbar nach der Befreiung schrieb Kogon sein Buch „Der SS-Staat“, das in der Folgezeit immer wieder neu aufgelegt wurde und als Standardwerk über das System der deutschen Konzentrationslager gilt. Unter der Überschrift „Der permanente unterirdische Kampf zwischen SS und antifaschistischen Kräften im Lager“ schildert er unter anderem die Stellung der deutschen Kommunisten in den Konzentrationslagern. Nach seinen Worten kann das „Verdienst der Kommunisten um die KL-Gefangenen kaum hoch genug eingeschätzt werden.“ Durch ihre Weigerung, die eigenen Reihen sauber zu halten, hätten sie sich allerdings viele Sympathien verscherzt und den Ruhm verdunkelt oder sogar völlig überschattet, „der jenen in ihren Reihen zukam, die weder anmaßend, noch brutal, noch korrupt“ gewesen seien..
„Leuchtend hebt sich aus den Scharen verkommener Gestalten, die als Kapos fungiert haben, eine Reihe älterer Häftlinge hervor, die, soweit sie am Leben geblieben sind, vom Anfang bis zum Ende des Lagers ein Beispiel der Sauberkeit, Menschlichkeit und des persönlichen Mutes gegeben haben. Ich halte es für eine Pflicht, an dieser Stelle aus Buchenwald die Namen Robert Siewert-Chemnitz und Baptist Feilen-Aachen zu nennen. Beide waren Kommunisten. Als Kapo der Wäscherei und Mitglied der internen illegalen Lagerleitung war Feilen bei den deutschen wie den ausländischen Gefangenen wegen seines gerechten, ruhigen und objektiven Sinnes gleich beliebt. Siewert war im Laufe der Jahre Kapo verschiedener Kommandos und hat den Mut besessen, selbst gegen SS-Kommandoführer aufzutreten, was ihn jedes Mal das Leben kosten konnte. Als er 1939 einmal sah, wie der Scharführer Abraham vier Juden in ein Wasserloch trieb und sie durch Prügel daran hinderte, wieder herauszugelangen, eilte er auf das Geschrei hin mit mehreren Kameraden zu der Stelle und konnte immerhin noch drei der Häftlinge retten. Siewert hatte die Kühnheit, gegen den Scharführer eine Meldung beim Rapportführer zu machen, und ist dabei nur mit Mühe der Prügelstrafe entkommen.“
Siewert habe sich durch seinen Mut bei den SS-Leuten einen gewissen Respekt verschafft. Sie hätten seine „ewigen Meldungen“, mit denen in der Regel allerlei Schererein verbunden gewesen seien, irgendwie gefürchtet. „Man darf nicht glauben“, heißt es weiter, „dass es möglich gewesen wäre, allgemein gegen die SS aufzutreten. Siewert war durchaus eine Ausnahme; dass ihn die SS nicht längst als ‚unbequemen Burschen’ beseitigt hatte, grenzte an ein psychologisches Wunder.“
Der gelernte Maurer war nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone kurze Zeit stellvertretender Ministerpräsident von Sachsen. Wegen seiner politischen Unangepasstheit machte er in der DDR nur eine bescheidene Karriere als Abteilungsleiter im Bauministerium. 1963 war er als einer von zwei Vertretern des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer Gast bei einem Bundeskongress der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Frankfurt am Main. Robert Siewert starb 1973. Er wurde in einer Grabanlage der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde bestattet. Zwei Schulen in der DDR trugen seinen Namen. Nach der deutschen Vereinigung wurde er entfernt.
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Der Verfasser (rechts) 1963 im Gespräch mit Robert Siewert (Mitte) und einem weiteren Gast aus der DDR während eines Bundeskongresses der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Frankfurt am Main