Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Von all dem erfuhr die Öffentlichkeit durch einen ganzseitigen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 31. März 2019 mit der Überschrift „Der Richter und sein Geheimnis“. In dem Artikel heißt es, Hofmeyer sei nach Kriegsende mit seiner Nähe zu Grünewald und seiner Tätigkeit in dessen Abteilung „äußerst diskret“ umgegangen. Grünewald habe zu den wenigen Juristen des „Dritten Reiches“ gehört, die wegen ihrer Verstrickung in Verbrechen zunächst nicht in den Staatsdienst der Bundesrepublik gedurft hätten.
Hofmeyer habe aber gewusst, wie man die eigene Vergangenheit in ein günstiges Licht rückte. In einem Vier-Augen-Gespräch mit dem Überlebenden-Anwalt Ormond habe er statt Grünewald einen anderen Vorgesetzten aus Kriegstagen genannt: Karl Sack. Schon die Nennung des Namens habe ausgereicht, um eine Nähe zum Kreis des Widerstandes zu insinuieren, zitiert die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Matias Ristic.
Das Täuschungsmanöver gelang. Etwaige Zweifel an Hofmeyers Eignung als Vorsitzender des Auschwitz-Prozesses waren damit ausgeräumt. Karl Sack, ehemals Chef der Heeresrechtsabteilung im Oberkommando des Heeres, gehörte zu den Mitwissern des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944. Er wurde zusammen mit anderen Widerstandskämpfern im April 1945 von einem Standgericht zum Tode verurteilt und im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Geleitet wurde das Standgericht vom Chefrichter beim SS-und Polizeigericht in München, Otto Thorbeck. Ein Verfahren gegen Thorbeck wegen Beihilfe zum Mord endete 1956 vor dem Bundesgerichtshof mit einem Freispruch.
Nachdem Hofmeyer am 20. Dezember 1963 den Auschwitz-Prozess eröffnet hatte, warf ihm die SED-Zeitung „Neues Deutschland“ am nächsten Tag vor, als Oberstabsrichter während der NS-Zeit an Todesurteilen beteiligt gewesen zu sein. Im Westen hielt man das für kommunistische Propaganda. Was aber wäre passiert, wenn die jetzt bekannt gewordenen Einzelheiten schon damals ans Tageslicht gekommen wären? Hofmeyer hätte einen Befangenheitsantrag schwerlich überstanden. Als bekannt geworden war, dass sein ursprünglich als Vorsitzender vorgesehener Richterkollege Hans Forester jüdische Verwandte hatte, die während der NS-Zeit verfolgt worden sind, befürchteten die Beteiligten einen Befangenheitsantrag und setzten den als Beisitzer vorgesehenen Hans Hofmeyer an seine Stelle.
Der hatte ganz andere Vorstellungen von der Aufgabe des Gerichts als etwa der hessische Generalstaatsanwalt und Initiator des Prozesses, Fritz Bauer. Dem ging es nicht so sehr um die Bestrafung einzelner Täter, sondern darum, die Gründe für das Abgleiten des deutschen Volkes in die Barbarei des Nazismus zu erforschen, um ähnliches Unheil für die Zukunft auszuschließen. Ohne Frage nach den Wurzeln des Bösen gebe es kein Heil und keine Heilung, sagte Bauer am 5. Februar 1964 vor 800 Studenten der Frankfurter Universität. Thema seines Vortrages war die Frage, ob die Prozesse gegen NS-Täter der politischen Aufklärung dienten. „Wenn Sie mich nun fragen, ob sie diese Zweckbestimmung auch erfüllen werden, stocke ich schon. Selbst auf die Gefahr, einen Sturm der Entrüstung zu wecken, sei es ausgesprochen – die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist noch lange nicht ‚bewältigt’. Alles Pharisäertum ist unangebracht. Die Prozesse stellen eine bittere Medizin dar; wir alle müssen sie schlucken.“
Ohne Fritz Bauers Namen zu nennen erteilte Hofmeyer in der Urteilsbegründung den Forderungen des hessischen Generalstaatsanwalts eine entschiedene Absage. „Das Gericht war nicht berufen, die Vergangenheit zu bewältigen“, sagte er. „Es hatte nicht zu prüfen, ob dieser Prozess zweckmäßig war oder nicht.“ Dem Verlangen nach einer umfassenden Darstellung des Zeitgeschehens, das zur Katastrophe von Auschwitz geführt habe, sei durch zahlreiche Gutachten Rechnung getragen worden. Aufgabe des Gerichts sei es gewesen, kriminelle Schuld im Sinne des Strafgesetzbuches zu ermitteln. Selbst wenn man alle Angeklagten wegen Mittäterschaft zu lebenslangem Zuchthaus verurteilte, würde das angesichts der Anzahl der Opfer niemals zu einer gerechten Sühne führen.
Späte Genugtuung
Auch das richtete sich an Fritz Bauers Adresse. Der hatte gegen Prozess-Ende vergebens darauf gedrängt, die Angeklagten auch ohne konkreten Tatnachweis wegen Beihilfe oder Mittäterschaft zur Rechenschaft zu ziehen. Die in Auschwitz begangenen Verbrechen hätten ohne das Zusammenwirken einer Vielzahl von Personen nicht begangen werden können. 43 Jahre später gelangte Bauers Rechtsauffassung im Prozess gegen den einstigen ukrainischen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, teilweise zur Geltung. Er wurde ohne konkreten Tatnachweis der Beihilfe zum Mord an 28.060 Juden für schuldig befunden. Nach Ansicht des Münchner Landgerichts war ein Wächter in einem Lager wie Sobibor automatisch Mordhelfer. Dem Ansehen Hofmeyers hat all das nicht geschadet. Was er in der Urteilsbegründung sagte, ging vielen zu Herzen: „Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann, ohne dass im Hintergrund und im Geist ihm die hohlen, fragenden und verständnislosen, angsterfüllten Augen der Kinder auftauchen, die dort in Auschwitz ihren letzten Weg gegangen sind.“
Spricht so jemand, der nichts aus eigenen Fehlern gelernt hat? „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum“. (Faust 1). Als das Bundesverwaltungsgericht 1962 über einen Verbotsantrag der Bundesregierung gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes entscheiden sollte, hielt ein Besucher dem Präsidenten des Gerichts, Fritz Werner, am zweiten Verhandlungstag vor, Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Der Angegriffene reagierte auf unerwartete Weise. Der von ihm geleitete 1. Senat gab der Regierung in einem Beschluss zu bedenken, ob ihre Argumente für ein Verbot ausreichten. Der Sühnegedanke, der der verfassungsmäßigen Ordnung zu Grunde liege und dessen Verwirklichung zu den vornehmsten Aufgaben der Bundesrepublik gehöre, verlange eine Abwägung, ob gegen eine Organisation von Verfolgten ein Verbot mit der damit verbundenen Strafsanktion erlassen werden dürfe.
Schlimmer ist eine Bundesregierung kaum jemals abgekanzelt worden. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte es ab, einen Termin für die Fortführung des Verfahrens anzuberaumen. Der Prozess endete sang- und klanglos 1964 mit dem Inkrafttreten eines neuen Vereinsgesetzes. Was über das Verhalten des Richters Hans Hofmeyer während der NS-Zeit bekannt geworden ist, ändert nichts an der historischen Bedeutung des Auschwitz-Prozesses. Er hat, wie von Fritz Bauer gewünscht, den ermordeten Opfern und den Überlebenden von Auschwitz eine Stimme gegeben, die niemals verstummen wird und als Mahnung in die Zukunft hineinwirkt.
Foto:
Fritz Bauer
© cvfilmsberlin, http://www.fritz-bauer-film.de,
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Mit freundlicher Genehmigung Nachdruck aus: https://www.fritz-bauer-blog.de
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