Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wurde die EU zum disponiblen Prügelknaben und Blitzableiter für die Austeritäts- und Kürzungspolitik, die von Lohn-, Sozial-Abbau- und Unternehmenssteuer-Unterbietungswettbewerb gekennzeichnet war/und ist?
Dänemark hat die erste Nazipartei seit 1939
Über der Versammlung stand immer in Andeutungen die verlorene Wohlfahrtsstaatlichkeit, die Populisten, notorischen Europafeinden und Rechtsideologen in die Hände gespielt haben dürfte. War es nicht ein vermaledeites Stück, dass der Exportweltmeister am 23.06.2016 sechs Millionen Deutsche auf Hartz IV - mit regelmäßig Nudeln und Tomatensoße - gesetzt hatte, von Jens Spahn vor einigen Wochen noch gerechtfertigt? Das Feindbild Elite war auch stets nur Deckname für die entstandenen Verwerfungen, die eine materielle Basis hatten.
Seit 1979 bereits ist die Euroskepsis das Ventil aller in der EU Unzufriedenen. Daraus erklären sich die Denkzettel und Wahlenthaltungen von so vielen. Die Regierungsparteien (EVP, Sozialdemokraten) verlieren, während die Euroskeptischen der unterschiedlichen Couleurs Stimmen gewinnen. Das EU-Parlament ist zur euroskeptischen Veranstaltung geworden, mehr als jedes nationale Parlament für die Menge der Frustrierten; die rechts positioniert sind, überwiegen, wie der Politikwissenschaftler Philip Manow von der Universität Bremen resümierte. Die Zustimmung sank mit 2014 nochmal, das heißt: mit der Missgunst gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen. Rechte wollen die Tektonik verschieben; sie seien sich einig, denn „an die Wand fahren geht immer“.
Als Schwierigkeit wird das Einstimmigkeitsprinzip gesehen, die Verträge haben Verfassungscharakter, daneben ruht fest der EGH, der zwiespältig erscheint, weil er sich vorzugsweise als Hüter der Freiheit von Kapital und Dienstleistungen darstellt. Dem EU-Parlament gebührt immer noch kein Initiativrecht, dies könnte aber auch nach hinten losgehen, wenn es zum Verstärker von Exit-Verfahren werden würde. Ebenso könnte ein Mehrheitsprinzip nach hinten losgehen, wenn es den EU-Feinden als Sprengsatz diente.
Die britischen Konservativen: ein Schwarm von Brexit-Bats (‚british doomsters‘)
Ganz abgesehen von extremistischen, weit rechts gelagerten Brexitiers, die den modernen, liberalen Staat in Stücke reißen wollen: die konservative englische Politik habe die Tragweite des Referendums unterschätzt, wie die Politikwissenschaftlerin Christine Landfried ausführte. Der Beauftragte der EU-Kommission für die Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, Michel Barnier, war ein ehrlicher Makler. Die Eliten der Insel aber meinten: „Machen wir mal“. Die Konservative Anna Soubry soll sinngemäß gesagt haben: „Wir machen es, gewinnen es, dann brauchen wir uns 30, 40 Jahre nicht mehr darum zu kümmern“. Sie selbst stellte sich dem Brexit-Prozess zur Verfügung, sagte aber, entsprechend ihrer 84-jährigen Mutter, die am Tag danach nur weinte: "We made a terrible, terrible mistake on Friday". Ein Fischer, dem bestätigt wurde, alle Probleme kämen aus Europa mit seiner Bürokratie und einer Unmenge von Vorschriften, wurde mit der Sentenz gehört: „...und jetzt sollen wir – [doch] - dafür stimmen“.
Waren die Deregulierungen und Privatisierungen der Wendepunkt für Europa?
Diese wirtschaftsliberalen, die Gesellschaften untergrabenden Feldzüge entsprachen politischen Entscheidungen der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Seitdem hat Europa an Wohlfahrtsstaatlichkeit eingebüßt. Begünstigt wurden der freie Verkehr von Bankgeschäften, Handel und Waren. Kapitaleinkommen erhielten entgegen Arbeit und Daseinsfürsorge die Präferenz. BürgerInnen wandten sich ab, selbst wenn mit Geldern aus EU-Mitteln überall gebaut wurde. Die Politikwissenschaftlerin Christine Landfried verordnet Europa den – nach Leggewie - nationen-, regionen- und kommunen-übergreifenden Konvent, nachdem eine Vertragsneugründung 2015 gescheitert war. Der Paragraph 11 (TierSchG für die Vermittlung, Handel, Haltung usw.) kann hierfür Pate stehen. Das, wie auch Vertragsänderungen, wollen die Regierungen, besonders die französische, aber keinesfalls - es gilt als No-Go! EuGH und Kommission haben damit die schleichende Entpolitisierung vertraglich festgelegt.
Der erste Konvent, auch als „Grundrechtekonvent", „Verfassungskonvent" und Konvent für eine Reform der EWWU (Leitung: Roman Herzog; Dezember 1999 bis Oktober 2000) bezeichnet, scheiterte. Gefordert wird längst auch die Möglichkeit der Europäischen BI, das Europäische Wählerverzeichnis (das allen vorgelegt wird), der Europäische Sozialfond und die Europäische Arbeitslosenversicherung. Ganz zentral braucht es auch ein Europäisches Finanzministerium. Zu problematisieren wäre auch, ob die Kommission und der Europäische Rat denn wirklich demokratischen Ansprüchen entsprechen und ausreichend legitimiert sind. Statt nur einzelnes zu fordern – das war der Einwand aus dem Publikum – wäre es angemessen, gleich europäisch zu denken und zwar schnellstens. Darauf setzte auch der Geist von Ulrike Guérot, die gegen Ende mit gewohnter Verve auftrat. Es reicht nicht, zu sagen, Politik ist nicht für mich da, warum also europäisch wählen?
Das soziale Europa – die kümmerliche Pflanze
Heute geht die Entscheidung immer in Richtung – d.h. zugunsten - der Bessergestellten. Reich sein und Einfluss haben, das ist geltendes Gesetz. Ganz unten steht die Verkäuferin, die aus Personalmangel sich die Füße wundläuft und daher nicht vollzeitlich arbeiten kann - und dann aufstocken muss, was die Vollzeitkräfte mitfinanzieren. Es fragt sich auch, ob auf EU-Ebene nicht ebenfalls eine Blockade der alten weißen Männer herrscht, die völlig auf ihre Kreise bezogen denken. So wie ein Günther Verheugen, der die verbraucherfeindliche neue, liberalisierte Verpackungsgrößenverordnung maßgeblich durchgesetzt hat, ein Mann, dem - nach Auskunft von EU-Bürokratiekundigen - jedes Maß abhanden gekommen ist.
Der Verfassungsrechtler Stefan Kadelbach - der den Eröffnungsartikel zum Tag schrieb - lieferte zu allen vertretenen Ansätzen noch sehr fachkundige und überzeugende Präzisierungen. Ein Mangel der EU-Konstruktion besteht auch darin, dass das EU-Parlament nur ein Vetorecht im Zuge der dritten Lesung hat. Der EU-Apparat hat nicht wirklich Finanzen und Wirtschaft in seiner nur bedingten Verfügungsgewalt, bloß eine für Geld, Währung und Zins. Trotzdem wird der Misserfolg immer auf die EU geschoben. Wer verwundert sich daher über nationalistische Sprüche der aufgekommenen ‚illiberalen Demokratien‘. Es lauern gar zu viele Bruchstellen und Schwächen im System.
„Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde“, Ulrike Guèrot
Dieser Buchtitel lieferte den Leitsatz für die Ausführungen, die Ulrike Guèrot einbrachte. Sie sagt: die Rechten wissen, was sie wollen, die Demokraten verteidigen aber nur, wissen nicht recht, was sie wollen. Ihnen fehlt das Engagement. Als ob die EU zu komplex sei, um auf ihren Zerfall reagieren zu können. In Facebook haben 80 Prozent einen AfD-Hintergrund. Die andere Teilnehmerin im Gespräch mit Alf Mentzer, Mara-Daria Cojocaru, meinte hierzu: es gebe doch noch jenseits von Chemnitz, sie sieht nicht gar so schwarz.
Guèrot haute immer wieder in die Kerbe verdrängter Möglichkeiten: die Probleme wurden den Populisten überlassen. Das EU-Problem des Mach-mich-nicht-nass beförderte die Xenophobie und lieferte den Humus für rassistische mediale Untertöne. Orban sprach: Bis gestern war Europa unsere Zukunft – morgen sind Wir Europa! Populisten schlachten alles aus und wenden es ihrem Sinn gemäß: die AfD popularisiert Tiertransporte nur fürs Inland, Transporte können aber nur in Europa geregelt werden.
Guèrot: Nicht Europa ist gespalten, wir haben gespaltene Länder. Die Rechten, die etwas wollen, gewinnen, weil den Demokraten das Engagement fehlt. Mentzner dazu: Themen also zurückholen. In Turin heißt es schon: Liber Duce, Viva Duce! - Guèrot: wie kann Europa strukturiert werden mit so wenigen Prozent an Investitionen. Mit unbedarften Menschen fehle die Bereitschaft, aus dem Sehnsuchtsort Europa eine Realität zu machen. Mehrheiten besagen wenig bis Schlechtes. Die Mehrheit der Straße ist Faschismus: Mehrheit reicht nicht. 70 Prozent Nicht-Rechte haben nichts rechtes entgegen zu setzen.
Es gebe defacto keine europäischen Bürger, keinen europäischen Verein und auch kein europäisches Gemeinnützigkeitsrecht. Es braucht Treiber bis in die gemeinsamen Formulare hinein. Populismus ist Emotion -: dem Volk aufs Maul schauen. Erster Satz der Rechtspopulisten: Presse lügt - und schon kommt leidgeprüftes Volk, das Wut hat, herzu. Trotz allem: ‚viel europäisch‘ empfinden die Ungarn und Osteuropäer, wenig aber Länder wie Dänemark. Nation will bedeuten machen: man will mir was wegnehmen. Europa müsse zur Nation werden. Wir verlieren aber täglich. Wir seien nicht bereit, den Preis für Europa zu zahlen. 10 Jahre sind verloren. Europa sei nicht "for free lunch“. Freiheit hat einen Preis ohne Preisauszeichnung. Salvini will Europa, aber autokratisch und Chinesen rekapitalisieren schon Italiens Banken.
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© roemerberggespraeche-ffm.de
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