Bildschirmfoto 2019 06 02 um 09.55.36Zu den Neuwahlen in Israel 

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - In Israel haben vorgezogene Neuwahlen lange Tradition, doch was derzeit in der Knesset passiert, verweist auf unüberbrückbare politische Differenzen.

In der Nacht zum Dienstag machte die Knesset den ersten Schritt in Richtung vorgezogene Wahlen, als in erster Lesung das Gesetz zur Auflösung des Parlaments mit 66:44 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen wurde. Die zweite Lesung wurde von einer Spezialkommission vorbereitet, die sich mit 8:4 Stimmen für die Abhaltung von vorgezogenen Wahlen am 17. September aussprach. Mit der dritten und letzten Lesung wollte man dann bis Mittwochnacht zuwarten. Dann lief nämlich die Frist ab, die Präsident Reuven Rivlin Premier Binyamin Netanyahu für die Bildung einer Regierungskoalition gesetzt hatte.

War die aber tatsächlich schon durch? Auf dem Papier vielleicht, doch kaum im Tagesgeschäft der israelischen Politik. Diese war in den letzten Tagen geprägt gewesen vom verzweifelt erscheinenden Kampf Netanyahus gegen die «unnötige und kostspielige» Durchsetzung von vorgezogenen Wahlen. Dabei standen nach dem Urnengang vom 9. April für den zahlenmässigen Sieger Netanyahu die Sterne gut. Recht schnell allerdings realisierten die potentiellen Koalitionspartner, dass Netan­yahu auf jeden einzelnen von ihnen angewiesen war. So erwies sich dieser vermeintliche Erfolg als eigentlicher Pyrrhussieg: Mit keiner einzigen Partei konnte der Likud bis zum Ablaufen der Frist einen Koalitionsvertrag unterzeichnen. Dabei zeigte sich Avigdor Libermans Partei Israel Beiteinu mit ihren fünf Mandaten als Spielverderberin, beharrte Liberman doch bis zuletzt auf einer im Vergleich zu den früheren Versionen unveränderten Übernahme des Rekrutierungsgesetzes für ultraorthodoxe Jugendliche. Netanyahu und Liberman scheinen ihrer nun schon rund 25 Jahre dauernden politisch-parlamentarischen Hassliebe ein weiteres Kapitel hinzufügen zu wollen. Dabei ignorieren beide bewusst die Tatsache, dass sie mit ihrer Haltung letztlich das Volk schädigen. Was aber bedeutet das Volk schon, wenn zwei Kampfhähne eine weitere Runde in ihrem egozentrischen Kampf um Ehre und Prestige spielen? Wenn Liberman seinen Anhängern damit beweisen will, dass er mit dem rigorosen Beharren auf einer buchstabengetreuen Erfüllung des Rekrutierungsgesetzes die Verwandlung Israels zu einem «Staat der Halacha», also des Religionsgesetzes, verhindern kann? Und wenn Netanyahu Gefahr läuft, durch die verhasste Ausrufung vorgezogener Wahlen den bisher so erfolgreich geführten Kampf zu verlieren, um von seinen eigentlichen Bedenken abzulenken, der näherrückenden Anklageerhebung wegen Bestechung, Betrugs und Vertrauensmissbrauchs?


Sogar der Slogan wird vergessen

In der vorläufig letzten Phase dieses erbärmlichen Vertuschungsmanövers war US-Präsident Donald Trump sich nicht zu schade, am Montag seiner Hoffnung auf einen Sieg Netanyahus mit dem Hinweis Ausdruck zu verleihen, dass man doch noch so viele Dinge gemeinsam zu erledigen habe. Netanyahu reagierte nicht etwa mit einem Verweis von wegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten einer Drittseite an die Adresse des Freundes von Washington. Im Gegenteil. An der Pressekonferenz vom Montagabend dankte ein sichtlich erleichterter Netanyahu seinem amerikanischen Freund und Gönner für die Worte der Unterstützung, denn man habe tatsächlich noch so viele Projekte, die man gemeinsam angehen wolle. Dabei vergass der israelische Premier sogar die Erwähnung seines sonst gängigen Slogans im Hinblick auf die Verdächtigungen der Staatsanwaltschaft: «Da ist nichts, weil da nichts war.» Vielleicht ist Netanyahu inzwischen zur Einsicht gelangt, dass er künftig sparsamer mit Slogans umgehen sollte, da sich niemand mehr von ihnen hinter der Ofenbank hervorlocken lässt. Wie dem auch sei: Am Dienstagnachmittag sorgte Finanzminister Kahlon mit seiner Kulanu-Partei für Aufsehen, als er sich bereit erklärte, seine vier Abgeordneten der Likud-Partei unterzuordnen. Einerseits frohlockte der Premier, dessen Mandatszahl sich damit seiner Meinung nach auf 40 erhöhen würde. Auf der anderen Seite sorgte Kahlon mit seinem Schritt dafür, dass sich die Qualität seines Loyalitätsverständnisses dem Nullwert näherte. Denn ein Grossteil der 150 000 Israeli, die bei den letzten Wahlen Kulanu wählten, tat dies sicher, um einer Alternative zu Netan­yahu ihr Vertrauen auszusprechen. Nun stehen sie mit abgesägten Hosen da und kommen sich verschaukelt vor!


Rekrutierungsgesetz interessiert niemanden

Dabei hätte Netanyahu Grund zur Freude. Zumindest wenn er auf eine Umfrage vertraut, die diese Woche von der Zeitung «Maariv» veröffentlicht wurde. Das Resultat schanzt Netanyahus Rechtsblock im Fall von jetzt abgehaltenen Wahlen 68 Knessetmandate zu, gegenüber 65 bei den Wahlen vom 9. April. Der Likud würde bei seinen 35 Sitzen bleiben, während Blauweiss (Benny Gantz) einen Sitz verlieren und sich mit 34 Mandaten begnügen müsste. Weiteres Ergebnis der Umfrage: Die beiden ultraorthodoxen Parteien Shas und Vereinigtes Thorajudentum würden ihren Bestand von je acht Mandaten halten können. Das wiederum würde bedeuten, dass die Krise rund um das Rekrutierungsgesetz die Wähler ziemlich gleichgültig lässt. Avigdor Libermans Israel Beiteinu könnte ein Mandat zulegen und käme auf deren sechs. Gleich viel würde laut «Maariv» Bezalel Smotrichs Union der Rechtsparteien ergattern. Ob das allerdings Smotrich reichen wird, seinen Traum vom nächsten israelischen Justiz- und Erziehungsministerium zu verwirklichen, bleibt abzuwarten. Überraschend wäre zum jetzigen Zeitpunkt die Neue Rechte von Naftali Bennett und Ayelet Shaked, die nach dem Debakel vom 9. April dieses Mal mit fünf Sitzen ins Parlament einziehen würden. Katastrophal dürfte es dagegen für die Vereinigte Arabische Liste werden, die bei Wahlen kaum über die Mindestklausel hinwegkommen würde. – Am Montagnachmittag war die Atmosphäre in Jerusalem von den verschiedenen Versuchen geprägt, von Neuwahlen abzusehen und Netanyahu bei der Bildung einer Koalition zu helfen. Sollten aber, was nicht ausgeschlossen werden kann, alle Stricke reissen und Israel zum zweiten Mal in vier Monaten zur Wahlurne gebeten werden, hat Netanyahu in seinem Notizblock bereits den Wahltermin vom 17. September notiert. Diesen Termin befürwortete am Dienstagabend auch eine Sonderkommission, die die Unterbreitung der Auflösung der Knesset guthiess. Alles andere musste bis Mittwochnacht Spekulation bleiben. Dann erst brach auch für Netanyahu die Stunde der Wahrheit an.


Foto:
Premierminister Netanyahu am Sonntag in seinem Büro in Jerusalem bei der wöchentlichen Kabinettssitzung. Auch wenn ihm die Regierungsbildung gelingt, die Frage ist wohl eher, ob er danach noch lachen...
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 31. Mai  2019