wpo Stolpersteine 4185Erste Stolpersteine werden in Schlüchtern verlegt, Teil 4

Hanswerner Kruse

Schlüchtern (weltexpresso) - „Wir haben uns auf die Reise gemacht, um herauszufinden, wo und wie unsere Mutter gelebt hat“, sagt Linda vor den frisch verlegten Stolpersteinen in der Krämerstraße 16. Gemeinsam mit ihrer Schwester Judy und den Ehemännern suchen die amerikanischen Schwestern in Schlüchtern nach den Spuren ihrer Familie Goldschmidt, die hier zuletzt wohnte, bevor sie deportiert und ermordet wurde.

Die damals neunjährige Mutter Fränze Lore konnte mit dem etwas älteren Bruder Herbert in einem Kindertransport nach England der Naziherrschaft entkommen (wir berichteten). „Aber unsere Mum erzählte uns so wenig aus dieser Zeit, deshalb haben wir uns selbst auf die Reise begeben“, erklärt Judy, „wir konnten uns die Stadt einfach nicht vorstellen.“ Ihre Mutter sei damals, 1998, bei ihrem Besuch in Schlüchtern - zum einhundertjährigen Jubiläum der Synagoge - an den Bach herunter gegangen und habe Brot hinein geworfen, um die Vergangenheit loszulassen.

Zunächst werden die Besucherinnen im Rathaus vom Bürgermeister Matthias Möller (parteilos) empfangen. Der meint in seiner Begrüßung, die Geschichte der Familie habe ihn so berührt, dass er sehr dankbar für den Besuch sei. Man müsse aus der Vergangenheit lernen, um solche schrecklichen Ereignisse in der Zukunft zu verhindern. Die Schwestern kommen mit Zweifeln in unsere Stadt, ob es denn überhaupt noch irgendwelche Spuren vom jüdischen Leben und ihrer Familie gibt.

Bereits in der Synagoge sind sie erstaunt, wie detailliert Stadtarchivar Bernd Ullrich Informationen zusammengestellt hat. Ernst Müller-Marschhausen aus der Vorbereitungsgruppe wies auf die Nähe der Synagoge zur katholischen Kirche hin: „Das ist kein Zufall, sondern es zeigt, dass der jüdische Glaube hier als Religion gleichberechtigt war.“

Die Überraschung der Gäste ist groß, als nach einer Zeremonie mit Rabbiner Benjamin Maroko vor dem Café, auch zwei Schwestern als Zeitzeuginnen zum Essen kommen: Annemarie Schön (85) und Elisabeth Puder (87), beide geborene Hildebrands, wohnten einst nebenan und waren mit der Mutter von Linda und Judy befreundet . „Wir waren damals unendlich traurig, dass die beiden Kinder alleine ohne Eltern in die Fremde mussten und nicht einmal ihr Spielzeug mitnehmen durften.“ Das habe sie ihr Leben lang beschäftigt, „das war so schrecklich“, sie hätten sich oft gefragt, „was denn aus dem ‚Rickchen’ geworden ist.“

Ihr Eltern seien keine Nazis gewesen, im Gegenteil: „Die Partei wollte, dass unser Vater aus der Kirche austrat. Aber der hat das einfach nicht gemacht.“ Heimlich hätten sie nachts Essen im Beutel an den Gartenzaun der Goldschmidts gehängt. Im Café herrscht ein lebhaftes Gewusel, gemeinsam betrachten alle die Bilderalben, Bücher und alten Fotos.

Der Abschied der beiden Schwesternpaare voneinander ist so intensiv und berührend, als würden sie sich selbst noch von damals kennen. Die Hildebrands sind glücklich, dass „das Rickchen“ die Schrecknisse gut überstanden hat und die amerikanischen Schwestern, dass es wirklich noch so viele Spuren ihrer Familie in Schlüchtern gibt. Immer wieder fotografieren sie die Orte, die für ihre Mutter bedeutsam waren. Sie knipsen alle Listen und Tafeln, auch auf dem geschändeten jüdischen Friedhof, auf denen die Ermordeten oder Vertriebenen aufgeführt sind.

Müde kehren die Gäste am späten Nachmittag nach Frankfurt in ihr Hotel zurück. Am nächsten Tag schicken Linda und Judy, überwältigt von den vielen Eindrücken, eine unter die Haut gehende Mail (siehe unten).

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„Seit gestern sind wir immer noch in einem veränderten Zustand. Es scheint jetzt ein bisschen surreal - ist es wirklich passiert? Waren wir wirklich in dem Gebäude, in dem einst die Familie unserer Mutter wohnte? Waren wir wirklich in der Synagoge, wo unser Großvater unten saß, während unsere Großmutter oben auf der Frauenempore betete? Haben wir wirklich Nachbarn unserer Familie getroffen, die in der Dunkelheit der Nacht Milch zu ihnen schmuggelten? Haben wir wirklich den Kinderwagen im Fenster des Cafés gesehen, in dem sie heimlich Lebensmittel transportierten, um ihr Leid zu lindern? Allein der Gedanke an das Ausmaß des Ganzen rührt uns zu Tränen.“

Foto:
- Judy (links) und Linda auf dem einst geschändeten Jüdischen Friedhof in Schlüchtern
- Linda in der Synagoge

Siehe auch:
Kindertransporte