Inga Heß, Clas Röhl und Hanswerner Kruse
Schlüchtern (weltexpresso) - Anfang Juli wurden in Schlüchtern die ersten Stolpersteine in der Krämerstraße verlegt. Eine Woche später besuchten die Enkelinnen der verschleppten und ermordeten Familie Goldschmidt die Stadt (wir berichteten). Bei ihrem Besuch erzählten sie von einem Videointerview, dass der Regisseur Steven Spielberg („Schindlers Liste“) mit ihrer Mutter 1998 machte. Darin sprach Doris Mason, geborene Goldschmidt, über ihre Jahre in Schlüchtern und den Kindertransport nach England. Inga Heß sah das Video in der Frankfurter Universität, übersetzte es und schrieb ein Protokoll darüber. Daraus veröffentlichen wir im Folgenden von Hanswerner Kruse nacherzählte Auszüge - so wie die Mutter im Interview sprach:
...Zuletzt wohnte meine Familie im Haus des Opas in der Krämerstraße. Meine Großeltern waren sehr religiös. Jeden Freitag holten sie frisches Brot aus der Bäckerei und verbrachten fast den ganzen Samstag in der Synagoge. Außerdem gingen sie oft an den Fluss, wo es eine Art Park gab. Später wurde es immer schwieriger für unsere Familie, wir wurden oft als "dirty jews" (dreckige Juden) beschimpft. Für die Nachbarn wurde es auch immer schwieriger, den Kontakt mit uns zu halten. Ich ging auf eine „public school“, aber auch dort war es schrecklich, wir jüdischen Kinder wurden oft beschimpft.
Als ich sieben Jahre alt war, bewarfen mein zwölfjähriger Bruder und andere Jungen am Bahnhof mit Steinen nach Autos auf einem Güterzug, weil sie so frustriert waren. Das gab einen Riesenaufruhr in der Stadt, wir jüdischen Kinder wurden noch stärker erniedrigt.1937 sind die Brüder meines Vaters geflohen, er selbst wollte die Großeltern nicht alleine lassen und blieb. Bereits seit 1934/35, nachdem die Schuhmacherei enteignet wurde, gab es ständig Diskussionen darüber das Land zu verlassen.
In der Pogromnacht war ich im Haus meines Großvaters in der Krämerstraße. Es kamen viele Juden zusammen, weil sie dort Schutz suchten. Ich kann mich erinnern, dass sehr viel geweint und geschrien wurde. Eine Frau versuchte sich aus dem Fenster zu stürzen, andere Frauen wollten mitmachen. Mein Vater hatte große Mühe, sie zurückzuhalten. Alles war ein riesiges Chaos. Ich habe mich an meiner Mutter festgehalten, geweint und nichts mehr mitbekommen. Ich kann mich kaum erinnern, denn ich war „terribly frightened, terrified“ (schrecklich erschrocken und verängstigt).
Am Morgen hämmerten SA-Männer an der Tür und holten meinen Vater ab, der gerade am Beten war. Es wurden alle jüdischen Männer ab einem gewissen Alter mitgenommen, Opa konnte bleiben. Seitdem weinte die Oma nur noch. Zwei Monate war Vater weg, plötzlich kam er stark abgemagert zurück und erzählte uns Kindern lediglich, dass er harte Arbeit machen musste. Ich bin sicher, dass er nicht alles erzählte, weil er uns Kinder schützen wollte.
Nach der Pogromnacht durfte ich nicht mehr zur Schule. Eigentlich konnte ich gar nicht mehr aus dem Haus, da Schlüchtern eine kleine Stadt ist und jeder wusste wer Jude war. Eines Tages wurde der „Kindertransport“ beschlossen: Eigentlich wollte die ganze Familie gemeinsam ausreisen. Meine Eltern gingen jeden Tag zum Briefkasten und hofften vergeblich auf die Visa für England. Deshalb beschlossen sie, uns alleine nach England zu schicken. Sie meinten aber, dass sie ganz schnell nachkommen. Ich hatte Angst vor dem Kindertransport, weil ich nicht weg wollte. Auf dem Weg zum Bahnhof war meine Mutter hysterisch und ich habe nur geweint. Der Vater versuchte uns zu beruhigen, bald wären wir ja wieder zusammen. Über Amsterdam sind wir nach London gekommen.
Dort musste ich, getrennt von meinem Bruder, zu einer alleinstehenden Frau, die im Alter meiner Großmutter war. Ich hatte große Angst vor ihr. Die Eltern hatten immer gesagt, dass wir zu einer netten jüdischen Familie kommen. Die Frau sprach kein Wort Deutsch, deshalb konnten wir uns nicht verständigen. Mit dieser fremden Frau musste ich in einem Bett schlafen, das war ein Alptraum. Nach zwei Wochen rannte ich einfach weg, die Frau konnte mich nicht einholen. Die Polizei griff mich auf und steckte mich in ein Heim für jüdische Mädchen. Dort war es etwas besser, weil es wenigstens andere Kinder gab. Nachdem die Bombardierungen auf London begannen, wurden alle Heim-Kinder nach Cornwall gebracht. In dem Dorf in das wir kamen waren wir Exoten, die Menschen hatten noch nie jüdische Kinder gesehen. Es gab nur wenig Kontakt zu den Bewohnern. Mit 16 Jahren ging ich zurück nach London und machte dort eine Ausbildung zur Nanny. Die Erzieherinnen im Heim hatten bestimmt, was wir werden sollten.
Mein Bruder Herbert ist bei einer netten Familie untergekommen, in der er sich wohl gefühlt hat. Wir hatten kaum Kontakt miteinander, in acht Jahren habe ich ihn nur drei- oder viermal gesehen. Als ich mit der Ausbildung fertig war, ging ich nach New York, wo die Brüder unseres Vaters lebten. Die hatte ich nach dem Krieg über das Rote Kreuz ausfindig gemacht. Herbert blieb in England und war dort glücklich. Er war für mich ein Fremder, eine geschwisterliche Beziehung gab es nicht mehr. Von New York aus zog ich nach Kalifornien zur Schwester meiner Mutter. Dort lief es nicht gut, da ich vom Mann meiner Tante bedrängt wurde. Nach einem Jahr lernte ich Curtis am Strand kennen. Wir heirateten und kurz darauf wurde Linda geboren.
Inga Heß (Mitschrift und Übersetzung), Clas Röhl (Übersetzung), Hanswerner Kruse (Nacherzählung)
Fotos:
Privat, grafische Nachbearbeitung Hanswerner Kruse
Denkmal für die Kindertransporte in Berlin, Bahnhof Friedrichstraße (oben)
Doris Mason vor dem Kindertransport als sie noch Fränze Lore Goldschmidt hieß (Mitte)
Doris Mason, geborene Goldschmidt mit ihren Töchtern Linda & Judy (unten)
Info:
Im Jahr 1994, nachdem er den Film „Schindlers Liste“ gedreht hatte, gründete Steven Spielberg die private Stiftung „Shoah Visual History Foundation“ und startete ein Extrem-Projekt: Video-Interviews mit 50 000 Überlebenden des Völkermords an den Juden. Seine Grundidee: In einem „Rennen gegen die Zeit“ so viele Überlebende des Holocaust wie möglich zu befragen, damit deren Lebensgeschichten und Erinnerungen der Nachwelt erhalten bleiben, „etwas zu schaffen, das die Leugner des Holocaust Lügen straft“.