Die Sudetenkrise und der Zweite Weltkrieg
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Daß die meisten politischen Probleme der Jetztzeit ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, ist eine Binsenweisheit. Unsere Zeitungen sind voll davon, in aller Welt Konfliktherde auf ethnische oder religiöse Auseinandersetzungen um Vorherrschaft zurückzuführen. Mehr über das Früher zu wissen und es einordnen zu können, hat ja nicht nur die Geschichtswissenschaften und ihre Ergebnisse in Form von Büchern für die Allgemeinheit hervorgebracht, sondern zu einer Fülle von Zeitzeugenberichten geführt, die man gemeinhin Oral History nennt. Wann immer Kurt Nelhiebel von" früher" erzählt, lauschen wir gebannt. Wir haben ihn gebeten, dies für uns noch einmal niederzuschreiben. Die Redaktion
Meine Erinnerungen an den Beginn des Zweiten Weltkrieges sind untrennbar verbunden mit meinen Erinnerungen an die Sudetenkrise und den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in das Sudetenland. So hießen die überwiegend von Deutschen besiedelten Randgebiete der ersten Tschechoslowakischen Republik, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Segen der Siegermächte von der tschechischen Bevölkerungsmehrheit aus der Taufe gehoben worden war.
Bis dahin hatten Deutsche und Tschechen formal gleichberechtigt als Bürger der habsburgischen Kronlande Böhmen, Mähren und Schlesien friedlich nebeneinander gelebt, die Tschechen als Minderheit zweiten Ranges. Nun hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Eine für die Beteiligten ungewohnte Situation, die Scharfmachern auf beiden Seiten einen prächtigen Nährboden bot. Die bis dahin nicht gebräuchliche Bezeichnung Sudetenland, benannt nach einem Gebirgszug im Nordosten Böhmens mit der Schneekoppe als höchster Erhebung, entwickelte sich alsbald zu einem politischen Kampfbegriff, der auf die Abtrennung der deutschen besiedelten Gebiete von der Tschechoslowakei und den Anschluss an das Deutsche Reich hinzielte.
Solange Hitler nicht an der Macht war, hielten das viele für utopisch. Das änderte sich schlagartig, als die Naziführung in Berlin damit begann, die Sudetendeutschen unter ihrem Führer Konrad Henlein, einem Vasallen Hitlers, für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Ultimativ forderte Hitler am 12. September 1938 auf dem Parteitag der NSDAP in Nürnberg, „dass die Unterdrückung der dreieinhalb Millionen (Deutschen) in der Tschechoslowakei aufhört.“ An die Adresse des tschechischen Staatspräsidenten Benesch gerichtet, drohte er am 26. September im Berliner Sportpalast: „Er hat jetzt in der Hand Frieden oder Krieg. Er wird entweder den Deutschen endlich die Freiheit geben, oder wir werden uns diese Freiheit jetzt holen.“
Hitlers unverhüllte Drohung mit militärischer Gewalt machte deutlich, was die Stunde geschlagen hatte, aber die Verbündeten der Tschechoslowakei scheuten immer noch ein klares Wort. Frankreich ließ Hitler über seinen Berliner Botschafter immerhin Folgendes ausrichten: „Sie unterliegen einem tragischen Irrtum, Herr Reichskanzler, wenn Sie etwa glauben, den Konflikt auf die Tschechoslowakei begrenzen zu können. Wenn Sie dieses Land angreifen, stecken Sie damit ganz Europa in Brand.“ Ähnlich äußerte sich auch der britische Botschafter. Hinter dem Rücken der Regierung in Prag arbeiteten die westlichen Verbündeten an einer Lösung, die Hitler zufrieden stellen und ihn von einer militärischen Lösung des von ihm herbeigeführten Konflikts abhalten sollte.
So kam es am 29. September 1938 unter Einschaltung des italienischen Diktators Mussolini zu der folgenschweren Münchner Konferenz, auf der die Abtretung des Sudetenlandes an das Großdeutsche Reich besiegelt wurde. Die Tschechoslowakei wurde erst gar nicht hinzugezogen, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Hitler bekam grünes Licht, seine Truppen wie gewünscht am 1. Oktober in die Tschechoslowakei einmarschieren zu lassen. Den tschechischen Bewohnern des Sudetenlandes wurde eine Frist bis zum 10. Oktober für das Verlassen der Grenzgebiete gesetzt. Als dem tschechischen Außenminister Krofta in Prag ein Exemplar des Münchner Abkommen überreicht wurde, presste er, überwältigt von der demütigenden Situation, hervor „Das ist für uns eine Katastrophe, die wir nicht verdient haben. Wir unterwerfen uns. Wir sind bestimmt nicht die Letzten. Nach uns werden andere an die Reihe kommen.“
Drei Tage nach dem deutschen Einmarsch huldigte der inzwischen zum Gauleiter der NSDAP ernannte Konrad Henlein seinem Führer auf einer Kundgebung in Eger mit den Worten: „Wir können ihm nicht schöner danken, als dass wir ihm schwören, zu ihm zu stehen in guten und in schlechten Tagen.“ Für die Antifaschisten unter den Sudetendeutschen begann eine schwere Zeit. Mein Vater verlor seinen Arbeitsplatz als Sekretär des Einheitsverbandes der Privatangestellten und sollte unter dem Druck der Verhältnisse mit der Gewerkschaftsspitze nach Großbritannien emigrieren.
Meine Eltern lebten damals bereits seit Jahren getrennt. Wir Kinder, also meine Schwester und ich, waren bei der Mutter geblieben. In jenen wirren Tagen klopfte es nachts am Fenster. Unser Vater war im Schutz der Dunkelheit gekommen und sagte zu unserer Mutter: „Gib mir die Kinder mit.“ Die nächtliche Szene hat sich mir für immer eingeprägt. Ich sehe unsere Mutter im Nachthemd mit gespreizten Armen vor der Tür stehen und ihr „Niemals!“ dröhnt wie der Nachhall einer versunkenen Zeit noch immer in meinem Ohr. Lautlos wie er gekommen war, verschwand unser Vater wieder in der Dunkelheit.
Die nicht enden wollenden „Heil“-Rufe der Nachbarkinder bedrückten mich. Ich fühlte mich fremd unter meinesgleichen. Was sich damals abspielte, dass die Annexion des Sudetenlandes durch das Großdeutsche Reich nur das Vorspiel war zu einer viel größeren Unternehmung: der Neuordnung Europas zu einem germanischen Riesenreich unter deutscher Führung, das war mir mit meinen elf Jahren nicht bewusst.
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Der Verfasser vorn rechts während der Sudetenkrise.
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Info:
Vgl. Conrad Taler, Das Vorspiel, Die Sudetenkrise und der Zweite Weltkrieg, Donat Verlag, Bremen 1998
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