Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Der 1. September 1939 fiel auf einen Freitag. Für meine Schwester und mich war der Freitag immer ein besonderer Tag. Mama bekam dann ihren Wochenlohn und brachte auf dem Heimweg von der Arbeit Wurst mit und für Sonntag einen Schweinebraten. Die Wurst gab’s noch am selben Abend, den Rest am nächsten Morgen. Sonst gab’s nur Margarine aufs Brot und wenn’s hoch kam, zusätzlich Senf.
Mama musste uns allein versorgen. Seit unser Vater eine andere Frau kennen gelernt hatte, lebten die Eltern getrennt. Von unserem Vater konnten wir nicht viel erwarten. Er war lange arbeitslos und verdiente zwischendurch kaum das sprichwörtliche Salz in der Suppe. Wer nahm schon einen ehemaligen Sekretär der Kommunistischen Partei bei sich auf? Noch dazu während einer Weltwirtschaftskrise und einer Massenarbeitslosigkeit ohnegleichen. Der Wochenlohn unserer Mutter reichte kaum zum Leben. Sie war Hilfsarbeiterin in einer Flachsgarnspinnerei.
Zum Glück hatten wir noch unsere gute Oma, ehemals Verwalterin eines mehrstöckigen Gebäudes in Mährisch-Schönberg mit einem großem Restaurant und einem Theatersaal, in dem der weltberühmte Tenor Leo Slezak, ein Sohn der Stadt, aufgetreten ist Mama hat einmal zusammen mit hm auf der Bühne gestanden und im „Fidelen Bauer“ das Heinerle gesungen. Oma pflanzte in unserem kleinen Garten soviel Nahrhaftes an, dass wir immer satt wurden. Kartoffeln, Salat, Bohnen, Möhren, Radieschen, Tomaten und was es sonst noch gab, ein paar Blumen eingeschlossen.
Am Tag des Kriegsbeginns besuchte mich mein Freund Oswald. Er hatte verweinte Augen. In dem zwischen uns üblichen Riesengebirgsdialekt sagte er: „Vouto muss eirecka.“ Sein Vater war zur Wehrmacht eingezogen worden. Knapp ein Jahr nachdem Hitler sich von den Sudetendeutschen hatte bejubeln lassen, verlangte er nun seinen Preis: Die Bereitschaft zum Mitmachen und zum Sterben bei seinen Eroberungskriegen. Entrichten mussten ihn auch jene, die nicht „Wir wollen heim ins Reich“ gerufen hatten. Dass ich als Soldat auch noch in den Krieg ziehen sollte, kam mir damals nicht in den Sinn. Ich war zwölf Jahre alt und ging noch zur Schule.
Eine Zeit lang begegnete ich auf dem Schulweg dem Ortsgruppenleiter der NSDAP. Ich grüßte ihn wie vorgeschrieben mit „Heil Hitler“, bekam aber keine Antwort. Er sah mich nicht einmal an. Das wiederholte sich an den folgenden Tagen, bis ich mich entschloss, bei der nächsten Begegnung meine Schultasche unter den linken Arm zu klemmen und den rechten zum Deutschen Gruß hochzureißen. Da erst war der kleine Obernazi zufrieden und erwiderte meinen Gruß, sichtlich erfreut über den Erfolg seiner Disziplinierungsmaßnahme.
Im Großen und Ganzen bekamen wir den Krieg in unserer abgelegenen Gegend zunächst wenig zu spüren. Wir mussten uns zwar an die Verdunkelungsvorschriften halten, also die Fenster mit schwarzem Papier abdichten, und Lebensmittel gab es vom ersten Tag an nur noch auf Marken, aber ansonsten nahm das Leben seinen gewohnten Gang. Ich wechselte mit guten Noten von der Volksschule zur Mittelschule und von dort aus zur Handelsakademie, die während der Nazizeit Wirtschaftsoberschule hieß.
Der Direktor der Schule, ein strammer Nazi, der nie ohne Parteiabzeichen in seinem Büro saß, hatte mich von vornherein auf dem Kieker. Anscheinend kannte er die Vita meines Vaters. Ich bekam jedenfalls plötzlich schlechte Noten, in Deutsch sogar eine Fünf. Dass mich die Schulleitung tatsächlich loswerden wollte, erfuhr ich nach dem Krieg von einem Mitglied des Lehrerkollegiums, einem Professor aus der Bukowina, dem meine rote Armbinde aufgefallen war. Ihre Aufschrift wies mich als Antifaschisten aus.
Unserem Ortsgruppenleiter war der Hochmut inzwischen etwas vergangen. Weil sich die Nachrichten über gefallene Väter und Söhne häuften und den Durchhaltewillen in Gefahr brachten, durften die Benachrichtigungen nicht mehr vom Briefträger zugestellt werden. Das musste der jeweils zuständige Amtswalter der NSDAP selbst machen. Eingeschüchtert von seiner Uniform und einem Schwall von Durchhalteparolen wagten es die Hinterbliebenen in der Regel nicht, ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen oder sich gar in Klagen gegen das Regimes zu ergehen. Das öffentliche Tragen schwarzer Trauerkleidung war ohnedies verboten.
Im fünften Kriegsjahr bekam ich ein Fahrrad geschenkt. Es war ein Kriegsprodukt, schwarz lackiert und nicht sonderlich zuverlässig. Selten blieb eine Fahrt ohne Panne. Er würde es sehr bedauern, schrieb mir mein Vater, sollte ich „durch die Benutzung des Fahrrades Hautabschürfungen oder gar einen Knochenbruch davontragen“. Außerdem gab er mir an meinem 17. Geburtstag zu bedenken: „Sieh zu, dass die Kriegsfurie Dich nicht zu ihrem Spielball macht. Du weißt, was ich vom Krieg an und für sich halte. Ich hasse ihn, weil er nur Tod und Zerstörung hinterlässt. Man müsste alle Kriegstreiber jenem Schicksal überantworten, das insbesondere die ärmeren Volksschichten in Kriegszeiten zu erleiden haben .Man müsste sie mittellos und obdachlos für Jahre machen, damit sie an sich selbst erproben, was sie anderen zynisch zumuten.“
Das hätte meinen Vater ins Gefängnis bringen können. Seinem Wunsch, mich nicht zum Spielball der Kriegsfurie machen zu lassen, konnte ich nicht folgen. Ein halbes Jahr später wurde ich zur Wehrmacht eingezogen. Damals schrieb ich eines meiner ersten Gedichte:
Abschied will ich heute nehmen,
muss hinaus nun in die Welt.
Soll ich mich der Träne schämen,
die mir von der Wange fällt?
Seh’ ich euch noch einmal wieder,
Heimaterde, stilles Tal?
Klingen, Heimat, deine Lieder
heute mir zum letzten Mal?
Heimlich rauscht es in den Tannen,
grüßend nickt der Wald mir zu.
Und so ziehe ich von dannen –
Jugendzeit verflog im Nu.
Alles geht einmal zu Ende,
alles Leid, und auch das Glück.
Reich’ zum Abschied dir die Hände,
Heimat, wann kehr ich zurück . .
.
Foto:
Kartoffelernte im ersten Kriegsjahr. Kurt Nelhiebel links, daneben Freund Oswald, im Korb dessen Vater, der Fronturlaub hatte
© privat
Info:
Teil 3 folgt
Vgl. Kurt Nelhiebel, Im Wirrwarr der Meinungen, Zwei deutsche Antifaschisten und ihre Stimmen, Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2013.
Seh’ ich euch noch einmal wieder,
Heimaterde, stilles Tal?
Klingen, Heimat, deine Lieder
heute mir zum letzten Mal?
Heimlich rauscht es in den Tannen,
grüßend nickt der Wald mir zu.
Und so ziehe ich von dannen –
Jugendzeit verflog im Nu.
Alles geht einmal zu Ende,
alles Leid, und auch das Glück.
Reich’ zum Abschied dir die Hände,
Heimat, wann kehr ich zurück . .
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Foto:
Kartoffelernte im ersten Kriegsjahr. Kurt Nelhiebel links, daneben Freund Oswald, im Korb dessen Vater, der Fronturlaub hatte
© privat
Info:
Teil 3 folgt
Vgl. Kurt Nelhiebel, Im Wirrwarr der Meinungen, Zwei deutsche Antifaschisten und ihre Stimmen, Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2013.