Bildschirmfoto 2019 09 01 um 07.13.59Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen – Bericht eines Zeitzeugen

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Warum es mir so schwer fiel, meine Heimat zu verlassen, ist mit wenigen Worten gesagt:  In ihr fand ich jene Geborgenheit, die ich zu Hause schmerzlich vermisste. Es waren nicht so sehr die Menschen, die mir Schutz und Trost gaben, es waren die Berge ringsum, die Wälder, der Bach mit seinen Forellen, die Aupa, in der wir gern badeten, der Lauf der Gestirne, die Abendstille, der Ruf des Käuzchens.

Bildschirmfoto 2019 09 01 um 07.13.43Erste Station meiner Odyssee war die niederschlesische Kreisstadt Liegnitz, 60 Kilometer westlich von  Breslau. Von dort aus schrieb ich am 17. Dezember 1944 nach Hause: „Inzwischen wurde ich eingekleidet. Die Uniform entspricht dem sechsten Kriegsjahr. Gestern waren wir zu 40 Mann am Ostwall schippen. Neben mir Wiener und Bayern aus der Marschkompanie. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man als 17Jähriger zwischen alten Kriegern steht.“  Ich kannte den Krieg bisher nur aus der „Wochenschau“ mit ihren Propagandaparolen vom Siegeszug der deutschen Wehrmacht.

Nach der Niederwerfung Polens,  die 10.572 deutsche Soldaten das Leben gekostet hat, wie ich dieser Tage in der „Chronik des Jahrhunderts“ nachlesen konnte, waren einige Wochen  junge Frauen mit kahl geschorenen Köpfen und großen Augen in zwei Bussen zur Arbeit in der Fabrik bei uns im Ort gebracht worden. Sie trugen graue Kittel mit einem gelben Stern auf der Brust und wurden von uniformierten Aufseherinnen begleitet. Ich hatte noch nie Frauen ohne Kopfhaar gesehen und fühlte mich irgendwie beschämt. Dass ich die Tragödie eines ganzen Volkes vor Augen hatte, wusste ich nicht. Von Auschwitz hatte ich noch nie etwas gehört. Dabei lag die Todesfabrik nur hundert Kilometer von meinem Heimatort entfernt auf  der polnischen Seite des Riesengebirges..

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion kamen junge Ukrainerinnen zu uns ins Dorf. Streng abgeschirmt von der Außenwelt wohnten und arbeiteten sie in der Fabrik. Oft sangen sie abends schwermütige Lieder. Ihre hellen Stimmen waren bei geöffneten Fenstern weithin zu hören. Unserem Bauern wurde ein Junge aus der Ukraine zugeteilt. Er hatte strohblondes Haar und das Gesicht voller Sommersprossen. Das Ansinnen des Ortsbauernführers, ihm eine mit Stacheldraht gesicherte Schlafstelle einzurichten, wies der Bauer, wie wir von seinem Sohn erfuhren, zurück. Das sei ein Mensch und kein wildes Tier.

Als Gleichaltrige fanden wir schnell Kontakt zu dem fremden Jungen. Wir bewunderten die Fingerfertigkeit, mit der er aus Strohhalmen Spielzeuge herstellte. Bald merkten wir, dass er großes Heimweh hatte. Immer wieder kramte er aus seiner Hosentasche einen mit lilafarbener Tinte geschriebenen Brief von zu Hause hervor und versuchte, uns den Inhalt radebrechend zu vermitteln..

Bildschirmfoto 2019 09 01 um 07.14.44Von Liegnitz aus kam ich zur weiteren Ausbildung als Funker nach Berlin-Stahnsdorf. Dort war Schmalhans Küchenmeister. Obwohl die Entwendung von Lebensmitteln mit der  Todesstrafe bedroht war, gruben wir nachts auf Streifengängen schon mal ein paar Kartoffeln aus den Mieten am Rande des Kasernegeländes, die wir uns auf der Stube im Deckel des Löschwassereimers auf einer Heizschlange in einem Pfännchen brieten.

Mitunter hatten wir über Nacht ein Funkgerät auf der Stube. Dann kurbelten wir so lange an dem Gerät, bis wir BBC „drin“ hatten und das Neueste über die Lage an den Fronten erfuhren. Auf Socken schlichen wir dann zur Landkarte im Flur und korrigierten den mit einem Wollfaden gekennzeichneten Frontverlauf. Eine bewusste politische Handlung war das nicht, eher ein Protest gegen militärischen Drill und Bevormundung. Es war purer Leichtsinn, entsprungen jugendlichem Widerspruchsgeist, der uns den Kopf kosten konnte.

Dass mein letztes Stündlein tatsächlich nicht vorzeitig schlug, verdankte ich einem verständnisvollen Wehrmachtsarzt, bei dem ich mit einer simulierten Blinddarmentzündung auf dem Operationstisch lag. Er schlug mir mit der flachen Hand auf den nackten Bauch und fragte fröhlich: „Na, mein Junge, tut’s noch weh?“ Als ich nicht vor Schmerz aufschrie, war er sich sicher, dass ich die Blinddarmentzündung nur vorgespielt hatte. Wahrscheinlich waren ihm schon die Laborwerte merkwürdig vorgekommen. Ein anderer hätte mich wegen Wehrkraftzersetzung vor  Gericht gebracht.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einfügen, dass man mich bei der Wehrmacht ohne mein Dazutun und ohne entsprechenden Ehrgeiz meinerseits zum Reserveoffiziersbewerber gemacht hatte. Meine Beurteilung war mir im Dezember 1944 zufällig in die Hände geraten. Sie lautete folgendermaßen: „Rege, gute Auffassungsgabe, hervortretend, überdurchschnittliche Allgemeinbildung, normal entwickelt, gute Erscheinung, kameradschaftlich, etwas vorlaut, ehrlich, Leistung und Charakter überdurchschnittlich, strebsam, Führereigenschaft, entwicklungsfähig.’“ Ich habe sie damals abgeschrieben und meinem Vater geschickt. Er hat sie, wie alle meine Briefe, sorgfältig aufbewahrt.

FORTSETZUNG FOLGT

Fotos:
Der heute 92jährige Verfasser als Soldat während des Zweiten Weltkrieges
© privat

Info:
Vgl. Kurt Nelhiebel, Im Wirrwarr der Meinungen, Zwei deutsche Antifaschisten und ihre Stimmen, Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2013

Die bisherigen Teile der fünfteiligen Serie
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/16832-es-war-ein-freitag
https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/16808-das-vorspiel