Wie sich ein AfD-Sympathisant als Opfer darstellt
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Dem NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) werden zahlreiche Verbrechen angelastet.
Zwischen 2000 und 2007 ermordeten die rechten Terroristen neun Migranten und eine Polizistin, verübten 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge (Nürnberg 1999, Köln 2001 und 2004) und 15 Raubüberfälle. All das ficht H.J.S. (Name der Redaktion bekannt) nicht an. Er ist wegen Beleidigung Unbescholtener mehrfach vorbestraft. Wobei es sich bei den Beleidigungen eigentlich um Bedrohungen demokratischer gesinnter Staatsbürger handelt; bei exakter Auslegung der unveräußerlichen Grundrechte der Verfassung beinhalten sie sogar Aufrufe zur Volksverhetzung.
Ein typisches Kennzeichen der anonym versandten Schmähschriften war und ist die Verharmlosung des NSU und mittlerweile auch die des Mordes an Regierungspräsident Walter Lübcke. Vielmehr wurden die Morde – wie H.J.S. schreibt – „vom korrupten BRD-Regime und Kanzlerin Merkel inszeniert“. Es ist nicht bekannt, dass auch nur eine Staatsanwaltschaft deswegen Ermittlungen aufgenommen und Anklage erhoben hätte.
Irgendwie passt das Verhalten der Justiz zu dem Urteil des Berliner Landgerichts im Fall Renate Künast, die sich der Entscheidung zufolge übelste Beschimpfungen im Internet gefallen lassen muss. Sie wird gegen das Fehlurteil in Revision gehen. Und hierbei ist ihr und der Demokratie Erfolg zu wünschen.
In allen Fällen geht es nicht um Meinungsfreiheit, also um das, was im Kontext eines demokratischen Diskurses gesagt werden darf, kann und muss. Hier geht es um Stimmungsmache aus niederen Beweggründen, um Verächtlichmachung, um Ausgrenzung und um die Zerstörung des Rechtsstaats. Weil letzterer zu viele Angriffe gegen Grundrechte als in einer pluralistischen Gesellschaft hinnehmbar klassifiziert, ist es kein Wunder, dass ein Täter wie H.J.S. per Strafanzeige gegen jene vorgeht, die er zuvor anonym belästigt, beleidigt und bedroht hat – und die sich gewehrt haben. Unter anderem gegen den Autor dieses Beitrags.
In einem seiner Schmähbriefe, gerichtet an den „Autor (FR + Weltexpresso) K. P. Mertens“, der in der ersten Juli-Woche 2019 einging, heißt es:
»BRD-Medien = Lügner + Hetzer«
»„NSU“ ist Schmuh!!«
»Regime-Verbrechen und plumpeste Lügen wie in NS und DDR!!
Lübcke-Fall ebenso??«
»Das paßt Euch, daß Neonazi-Mörder erfunden werden + das als „rechte Gefahr“ dann gleich den antideutschen Zwecken zuliebe auf die anständigen AfD-Pegida-Patrioten übertragen wird!«
Der vierseitige Schmähbrief enthält u.a. Einträge aus dem rechtsextremen Blog „Politically Incorrect (PI-News)“, die so kommentiert werden:
»Solche Dreckslügen geilen Euch auf!!?«
Außerdem finden sich Bemerkungen wie:
»Lübcke-Fall so dubios wie „NSU“«
»RA Yildiz extrem beliebt bei Islam-Extremisten»
Typisch ist die Inanspruchnahme von Widerständlern gegen das NS-Regime:
»Es ist wieder so weit:
Die WEISSE ROSE 2, Widerstand nach Artikel 20.4 GG gegen Demokratie- und Volks-Zerstörung und sonstige Regimeverbrechen in der BRD«
»Möge Euch die gerechte harte Strafe ereilen
AUCH EUCH: FR + Co!!
wie anderen 1789, 1945«
»AfD = Die Retter von Volk + Land!«
»Gauland + Weidel = Edel-Deutsche!«
Der dubiose Rutengänger und Hellseher Alois Irlmaier (1894 – 1959) wird zitiert mit dem Satz:
»Wenn die ganze Lumperei aufkommt, steht das Volk auf mit den Soldaten. Dann wird jeder, der ein Amt hat, an der nächsten Laterne oder gleich am Fensterkreuz aufgehängt.«
»R2G+Merkel = Die schlimmsten Nationalverräter + Wertevernichter seit 1.000 Jahren«
Wer den Ungeist des NS-Staats so unverhohlen verharmlost, rechtfertigt und zu Gunsten der Neuen Rechten, speziell der AfD, instrumentalisiert, muss es sich gefallen lassen, als „Erweckungsprediger des Nationalsozialismus“ bezeichnet zu werden. Was noch als eine vergleichsweise diplomatisch ausgedrückte Formulierung gelten kann. Man darf gespannt sein auf die Entscheidungen der Justiz. Und nicht zuletzt darauf, ob der hessische Innenminister und die hessische Justizministerin endlich aus ihrer Lethargie erwachen.
Foto:
Wiedergabe der ersten Seite des erwähnten Drohbriefs von H.J.S.
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