Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Läuft in Israels Innenpolitik tatsächlich alles auf einen dritten Wahlgang hinaus? Diese Frage hörte man am Dienstagabend und Mittwoch nach dem Ende von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest, immer lauter. Hatten Premier Netanyahu und Benny Gantz, der Chef der Oppositionspartei Blauweiß und der zahlenmässige Sieger der letzten Wahlen, noch vor Festbeginn vereinbart, zusammen mit den Verhandlungsteams am Mittwochabend eine entscheidende Sitzung abzuhalten im Bestreben, doch noch eine Einheitsregierung auf die Beine zu stellen, so schickten die Leute um Gantz am Dienstagabend diesen Plan überraschend bachab: keine Sitzung und auch kein Treffen Netanyahu/Gantz!
Blauweiß erklärte seine Position am Dienstagabend in einem Communiqué: «Zum jetzigen Zeitpunkt sind die vorläufigen Bedingungen zur Abhaltung eines effizienten Treffens zwischen den Verhandlungsteams nicht gegeben, und aus diesem Grund wird es am Mittwoch kein Treffen geben. Sollte es sich als nötig erweisen, könnten wir im späteren Verlauf dieser Woche oder nächste Woche ein Treffen abhalten.» Die an Gleichgültigkeit grenzende Unlust ist aus diesen Zeilen mehr als deutlich herauszuspüren. Um das Mass des parlamentarischen Scherbenhaufens voll zu machen, fügte Blauweiß seinem Schwanengesang noch hinzu: «Unter den gegenwärtigen Umständen ist es unwahrscheinlich, dass der Premierminister und Gantz ein Treffen unter vier Augen abhalten werden.»
Rivlin, der Intrigant
Staatspräsident Reuven Rivlin, der, so wollte es zumindest scheinen, die beiden streitsüchtigen Parteien mit seinem väterlich-jovialen Gehabe zunächst in die Knie zwingen konnte, dürfte sich beim jetzigen Stand der Dinge wahrscheinlich alle noch vorhandenen Haupthaare einzeln ausreissen. Er hat sich, so sah es jedenfalls am Mittwoch aus, von Netanyahus Perfidie und von der (wahrscheinlich letztlich nur gespielten) Naivität von Blauweiß ganz schön ins Bockshorn jagen lassen. Journalistische Stimmen wehren sich vorläufig noch, Rivlin trotz seiner bekannten subkutanen Antipathie für das Haus Netanyahu, zu unterschieben, den Likud-Chef nicht ganz unbeabsichtigt ins politische Abseits marschieren lassen zu wollen. Unmöglich wäre es zwar nicht. Doch eine solch miese Charakter-Performance würde ziemlich sicher ausreichen, um den Präsidenten vollends von dem hehren Podest zu stossen, auf dem er bis jetzt praktisch unangefochten in der Meinung des Volkes stand.
Schwarzer Peter Yair Lapid
Zumindest am Mittwoch versuchte Likud, in der Rolle des geprellten, zu allen Schandtaten bereit gewesenen potenziellen Partners noch den Eindruck aufrechtzuerhalten, von Gantz und seinem Team an der Nase herumgeführt worden zu sein. In einer offiziellen Stellungnahme gab Likud sich «schockiert» über den Beschluss von Blauweiß, die Verhandlungen zwischen dem Premierminister und Benny Gantz platzen zu lassen und das auf Mittwoch anberaumte Treffen zwischen den beiden Verhandlungsteams zu annullieren. «Der Beschluss von Blauweiß», hiess es im Likud-Communiqué weiter, «die Verhandlungen über eine Regierung der nationalen Einheit zu stoppen und in Richtung auf Wahlen zu gehen, hat einen einzigen Grund: Yair Lapid von Blauweiß sabotiert den Gedanken einer Einheitsregierung, denn er will keine Rotation zwischen Netanyahu und Gantz sehen.
Er stimmt nämlich einzig einer Rotation zwischen sich selbst und Gantz zu.» Zum Schluss seiner Stellungnahme wiederholte Likud nur leeres Geschwätz: «Premierminister Netanyahu bekräftigt seinen Aufruf an Gantz, Verantwortungsbewusstsein zu zeigen, einen weiteren Wahlgang zu verhindern und sich mit Gantz wie vereinbart zu treffen.» Irgendwie kann man sich gut vorstellen, wie die Leute von Likud, die diese Stellungnahme veröffentlichten, sich bei dessen Abfassung krumm gelacht und sich vermutlich nicht einmal die Frage gestellt hatten, ob auch nur eine Person all die Lügen ernst nehmen würde – abgesehen vom Volk natürlich, das gar keine andere Wahl hat, als entweder zu putschen oder dann eben jede Suppe auszulöffeln, die die Polit-Halunken zubereitet haben.
Neuwahlen vor der Tür
Offenbar war man vor allem bei der Mitte-Links-Partei Blauweiß aber zum Schluss gelangt, dass Regierungschef Netanyahu mit gezinkten Karten spielt: Immer offener war zu hören, dass Netanyahu effektiv nur an einem Konzept interessiert sei: daran, die Politiker und das Volk zu einer dritten Auflage von Knessetwahlen innert weniger Monate zu zwingen. Hauptziel des Premierministers wäre es, angesichts des Anhörungsprozederes in den Korruptionsfällen, die sich gegen Netanyahu zusammenballen, Zeit zu gewinnen. Damit kommen wir zu einem zweiten Faktor, der belegt, wie stets unorganisierter sich die politische Situation in Israel derzeit präsentiert: Die erste Phase in den vier Fällen der Anhörungen soll rund eine Woche dauern und wird seitens der Staatsanwaltschaft von einem 25-köpfigen Team beschickt werden. Das ganze Prozedere kann sich aber, wenn nötig, auch bis Ende Jahr erstrecken. Wie in einer solchen Atmosphäre von Druck und Gegendruck Parlamentswahlen ordnungsgemäss über die Bühne gehen sollen, weiss zurzeit niemand genau zu sagen. Die Dinge in Jerusalem laufen momentan aber so ausgesprochen erratisch, dass bei Publikation dieses Textes vielleicht schon alles wieder ganz anders sein wird als bei dessen Verfassen. Wie weit die Positionen der beiden potenziellen Kandidaten für eine Einheitsregierung derzeit noch voneinander liegen, belegt Blauweiß mit seinem immer wiederkehrenden Argument von Likud, der nicht aus dem Korsett «Bibi wird anfangen» ausbrechen könne. Dieses spielt auf die Rolle der präsumptiven Premierminister in einer Rotations-Einheitsregierung an. Blauweiß opponiert auch gegen das sture Bestehen von Likud auf Einschluss aller 55 rechtsgerichteter Abgeordneter in die Koalition. Likud wiederum macht keinen Hehl aus seiner «grossen Enttäuschung» über die Weigerung von Blauweiß, die von Präsident Rivlin vorgeschlagene Einheitsregierung zu akzeptieren.
Foto:
Sich zusammenzusetzen gelingt den beiden Politikern Gantz (l.) und Netanyahu (r.) wohl nicht so schnell. Auch am Gedenkgottesdienst für den verstorbenen Präsidenten Shimon Peres vor zwei Wochen...© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. Oktober 2019
Neuwahlen vor der Tür
Offenbar war man vor allem bei der Mitte-Links-Partei Blauweiß aber zum Schluss gelangt, dass Regierungschef Netanyahu mit gezinkten Karten spielt: Immer offener war zu hören, dass Netanyahu effektiv nur an einem Konzept interessiert sei: daran, die Politiker und das Volk zu einer dritten Auflage von Knessetwahlen innert weniger Monate zu zwingen. Hauptziel des Premierministers wäre es, angesichts des Anhörungsprozederes in den Korruptionsfällen, die sich gegen Netanyahu zusammenballen, Zeit zu gewinnen. Damit kommen wir zu einem zweiten Faktor, der belegt, wie stets unorganisierter sich die politische Situation in Israel derzeit präsentiert: Die erste Phase in den vier Fällen der Anhörungen soll rund eine Woche dauern und wird seitens der Staatsanwaltschaft von einem 25-köpfigen Team beschickt werden. Das ganze Prozedere kann sich aber, wenn nötig, auch bis Ende Jahr erstrecken. Wie in einer solchen Atmosphäre von Druck und Gegendruck Parlamentswahlen ordnungsgemäss über die Bühne gehen sollen, weiss zurzeit niemand genau zu sagen. Die Dinge in Jerusalem laufen momentan aber so ausgesprochen erratisch, dass bei Publikation dieses Textes vielleicht schon alles wieder ganz anders sein wird als bei dessen Verfassen. Wie weit die Positionen der beiden potenziellen Kandidaten für eine Einheitsregierung derzeit noch voneinander liegen, belegt Blauweiß mit seinem immer wiederkehrenden Argument von Likud, der nicht aus dem Korsett «Bibi wird anfangen» ausbrechen könne. Dieses spielt auf die Rolle der präsumptiven Premierminister in einer Rotations-Einheitsregierung an. Blauweiß opponiert auch gegen das sture Bestehen von Likud auf Einschluss aller 55 rechtsgerichteter Abgeordneter in die Koalition. Likud wiederum macht keinen Hehl aus seiner «grossen Enttäuschung» über die Weigerung von Blauweiß, die von Präsident Rivlin vorgeschlagene Einheitsregierung zu akzeptieren.
Foto:
Sich zusammenzusetzen gelingt den beiden Politikern Gantz (l.) und Netanyahu (r.) wohl nicht so schnell. Auch am Gedenkgottesdienst für den verstorbenen Präsidenten Shimon Peres vor zwei Wochen...© tachles
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 4. Oktober 2019