Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Die Geschichte des Antisemitismus in der Bundesrepublik ist die Geschichte seiner Verharmlosung. Jetzt hat der Antisemitismus in Deutschland nach den Worten des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, einen Krisenpunkt erreicht.
Anlass der alarmierenden Feststellung sind die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage der Dachorganisation jüdischer Gemeinden und Organisationen aus mehr als hundert Ländern, über die die Süddeutsche Zeitung vom 24. Oktober 2019 in großer Aufmachung berichtet hat. Danach denkt jeder vierte Deutsche antisemitisch. In Zahlen ausgedrückt: 27 Prozent aller Deutschen und 18 Prozent einer als „Elite“ kategorisierten Bevölkerungsgruppe hegten antisemitische Gedanken. 41 Prozent der Deutschen seien gar der Meinung, Juden redeten zu viel über den Holocaust.
Der wachsende Antisemitismus werde von 65 Prozent der Deutschen und 76 Prozent der so genannten Elite mit dem Erfolg rechtsextremer Parteien in Verbindung gebracht. Gleichzeitig wachse auch die Bereitschaft, sich dagegen zu wehren. Ein Drittel aller Befragten würden gegen den Antisemitismus auf die Straße gehen. Etwa 60 Prozent räumen der Studie zufolge ein, dass Juden einem Gewaltrisiko oder hasserfüllten Verbalangriffen ausgesetzt seien. Ein Viertel hält es für möglich, dass sich „so etwas wie der Holocaust in Deutschland heute wiederholen kann. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses kommentierte die Studie laut Süddeutscher Zeitung mit den Worten: „Wir haben gesehen, was passiert, wenn einfache Leute weggeschaut oder geschwiegen haben...Es ist an der Zeit, dass die gesamte deutsche Gesellschaft Position bezieht und Antisemitismus frontal bekämpft.“
An Warnungen auch von deutscher Seite hat es nicht gefehlt. Dominiert hat jedoch die Bagatellisierung des Antisemitismus. Als es Ende 1959 zu einem Anschlag auf die Synagoge in Köln und binnen zwei Wochen zu weiteren 136 ähnlichen Übergriffen kam, beruhigte Bundeskanzler Adenauer das besorgte Ausland. Bei den Ausschreitungen handle es sich um „bloße Flegeleien ohne politischen Hintergrund“, sagte er. Der deutschen Bevölkerung empfahl der Regierungschef, antisemitischen Schmierern an Ort und Stelle eine Tracht Prügel zu verabreichen, was ihm binnen vier Wochen sieben Strafanzeigen bei der Bonner Staatsanwaltschaft eintrug.
In einer Mitteilung des Bundespressesamtes hieß es, es lägen Anzeichen dafür vor, dass diese Frevel...Teil einer geplanten Aktion seien, die die Bundesrepublik in den Augen der Weltöffentlichkeit diffamieren solle. Während das offizielle Bonn auf eine klare Schuldzuweisung verzichtete, wusste es der – wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in der Nummer 9/1960 formulierte – nicht zuständige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß wieder einmal besser. Fernab von den Geschehnissen habe er internationale Zeitungsleute während eines Aufenthalts in Lissabon wissen lassen, hinter den antisemitischen Schmutzereien steckten die Kommunisten.
Als im Herbst 1981 in der Lüneburger Heide in 23 geheimen Depots unter anderem 88 Kisten mit Munition und Sprengmitteln gefunden wurden, sah das Präsidium der SPD darin einen Beweis, dass die rechtsextremistische Gefahr größer sei, als angenommen werde; es sei notwendig, Gesetzlücken zur besseren Bekämpfung des Rechtsextremismus zu schließen. Der rechtspolitische Sprecher der CSU, Fritz Wittmann, erwiderte, die SPD nutze die Waffenfunde nur als Vorwand, um von jahrelangen eigenen Versäumnissen beim Kampf gegen den linken Terrorismus abzulenken.
Gegen die Verharmlosung des Rechtsextremismus hatte sich zu Beginn jenes Jahres der deutsche Soziologe Ralph Dahrendorf, damals Leiter der London School of Economics, gewandt. In einem Artikel für die Wochenzeitung DIE ZEIT vom 9. Januar 1981 schrieb er unter anderem, er sehe nur e i n e Gefahr für die Freiheit, das sei die von rechts. Die Linke errege immer noch Furcht, aber kein entwickeltes Land der Welt sei je von einer totalitären Linken erobert worden, dagegen manche von der totalitären Rechten.
Um was es geht, fasste die Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth von der CDU anlässlich des 55. Jahrestages des Pogromnacht vom 9. November so zusammen: „Der Rechtsradikalismus und die Gewalttaten haben ein gesellschaftliches Umfeld. Begreifen wir vor allem, dass Demokratie nicht erst dann gefährdet ist, wenn Brandsätze fliegen. Es ist vielmehr auch das Klima der Duldung, des Zulassens, der Gleichgültigkeit und Passivität, in dem die Gewalt wuchert und Nahrung findet.“ Diese Sätze standen so im vorab verbreiteten Manuskript. In ihrer Rede hat Frau Süßmuth sie weggelassen. Ob sie das nachträglich bereut angesichts der Feststellung des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, der Antisemitismus in Deutschland habe einen Krisenpunkt erreicht?
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